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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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stärker die kleinen Dinge der Welt ins Auge. Eine Schnecke, eine Dachtraufe, die Sachen im Schaufenster einer Eisenwarenhandlung. Diese Dinge brennen mir auf der Seele.«
    »Soll ich aufräumen?«
    »Nein, lass. Lass es, wie es ist.«
    »Erzähl mir von der Schnecke.«
    »Vor einer Wäscherei habe ich eine Schnecke gesehen«, sagte ich. »Ich wusste nicht, dass es im Herbst Schnecken gibt.«
    »Schnecken gibt es das ganze Jahr.«
    »Scheint so.«
    »In Europa hat die Schnecke mythische Bedeutung«, sagte sie. »Das Gehäuse repräsentiert die Welt der Dunkelheit. Das Herauskriechen der Schnecke kommt dem Advent des Lichtes gleich. Deshalb klopfen die Leute, wenn sie eine Schnecke sehen, instinktiv auf das Gehäuse, um sie herauszulocken. Hast du das schon mal gemacht?«
    »Nein«, sagte ich. »Du weißt allerhand, nicht wahr?«
    »Wenn man in einer Bibliothek arbeitet, bekommt man so einiges mit.«
    Ich griff nach der Packung Seven Stars auf dem Tisch und zündete mir mit den Streichhölzern aus der Bierhalle eine an. Dann besah ich mir wieder die Kleidungsstücke auf dem Boden. Quer über ihre blassblauen Strümpfe streckte sich ein Ärmel meines Hemdes. Das Samtkleid knickte merkwürdig verrenkt in der Taille ab, daneben ruhte schlaff ihr Hauch von Slip. Halskettchen und Armbanduhr hatte sie aufs Sofa geworfen, die schwarzlederne Schultertasche lag auf dem Beistelltischchen in einer Ecke des Zimmers.
    Ihre abgelegten Sachen sahen mehr nach ihr selbst aus als sie selbst. Und meine mehr nach mir als ich selbst.
    »Weshalb bist du eigentlich Bibliothekarin geworden?«, fragte ich sie.
    »Weil ich Bibliotheken mag«, sagte sie. »Ruhe, viele Bücher, gesammeltes Wissen. In einer Bank oder einer Handelsfirma wollte ich nicht arbeiten, und Lehrerin zu werden kam gar nicht in Frage.«
    Ich blies den Rauch meiner Zigarette zur Decke und sah ihm eine Weile nach.
    »Möchtest du mehr von mir wissen?«, fragte sie. »Wo ich geboren bin, was für eine Kindheit ich hatte, auf welcher Uni ich war, wann ich meine Jungfernschaft verloren habe, welche Farbe ich am liebsten mag, all das?«
    »Nein«, sagte ich. »Nicht jetzt. Und nicht alles auf einmal.«
    »Ich würde gerne mehr von dir wissen – nach und nach.«
    »Ich bin am Meer groß geworden«, sagte ich. »Am Morgen nach Taifunen lag am Strand immer alles Mögliche herum, angeschwemmtes Zeug. Du kannst dir nicht vorstellen, was alles – von Flaschen, Holzsandalen, Mützen und Brillenetuis bis hin zu Stühlen und Tischen. Warum solches Zeug angeschwemmt wurde, war mir immer ein Rätsel. Aber ich liebte es, danach zu suchen, und freute mich auf jeden Taifun. Wahrscheinlich kam es von anderen Stränden, mitgerissen vom Meer, und wurde dann bei uns angespült.« Ich drückte im Aschenbecher die Zigarette aus und stellte das leere Glas auf den Tisch. »Das angeschwemmte Zeug war immer merkwürdig sauber. Alles Müll und unbrauchbar, aber sauber. Nichts war so dreckig, dass man es nicht hätte anfassen können. Das Meer ist schon etwas Besonderes. Wenn ich mein Leben überdenke, kommt mir immer dieser Strandmüll in den Sinn. Genauso war nämlich mein Leben. Ich habe Müll gesammelt und auf meine Weise sauber gemacht – dann aber nicht benutzt, sondern nur wieder weggeworfen. Um es verrotten zu lassen.«
    »Immerhin hattest du Stil, oder? Du hast sauber gemacht!«
    »Stil, Stil! Stil hat jede Schnecke! Ich bin immer nur von Strand zu Strand gezogen. Was sich in den Zwischenzeiten ereignete, weiß ich zwar, aber das ist auch alles. Ich weiß es, weiter nichts. Mit meinem Jetzt hat es nicht das Geringste zu tun. Es ist sauber, aber nicht zu gebrauchen.«
    Sie legte mir die Hand auf die Schulter, stand auf und ging zur Küche. Sie holte Wein aus dem Kühlschrank, goss sich ein, stellte das Glas und ein neues Bier für mich auf ein Tablett und brachte es ins Wohnzimmer.
    »Ich mag die dunkle Stunde vor Sonnenaufgang«, sagte sie. »Vielleicht, weil sie sauber ist und nicht zu gebrauchen.«
    »Sie wird bald vorbei sein. Es wird dämmern, die Zeitung wird ausgetragen, die Milch gebracht, und dann fahren die ersten Bahnen.«
    Sie kuschelte sich an mich, zog sich die Decke bis zur Brust und nippte an ihrem Wein. Ich schenkte mir Bier ein und betrachtete, das Glas in der Hand, den Schädel auf dem Tisch, der sein Strahlen noch nicht verloren hatte. Er warf sein fahles Licht auf die Flaschen, den Aschenbecher und die Streichhölzer. Ihr Kopf lag auf meiner Schulter.
    »Als du eben aus

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