Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
geheilt sind. Nichts kann sie jetzt noch verletzen.
Ein herrlicher Anblick! Überall ringsum blitzen und blinken die Lichter. Vereint im Schwur des Schweigens funkeln sie wie Edelsteine auf dem Grunde eines klaren Sees. Ich nehme einen der Schädel in die Hand und streiche sanft mit den Fingerspitzen die Schädeldecke entlang. Dabei kann ich ihre Seele fühlen. Ihre Seele ist da! Klein und zart schmiegt sie sich an meine Fingerspitzen. Die vereinzelten feinen Strahlen ihrer Seele haben nur schwache Wärme und Helligkeit, aber es ist Helligkeit und Wärme, und die kann ihr niemand mehr nehmen.
»Da ist sie, deine Seele!«, sage ich. »Was da leuchtet, ist allein deine Seele.«
Sie nickt nur ganz leise und sieht mich mit tränenerfüllten Augen an.
»Jetzt kann ich deine Seele lesen, jetzt kann ich die einzelnen Teile zu einem Ganzen zusammenfügen. Deine Seele ist nicht mehr verloren und zerstückelt. Sie ist da, und niemand kann sie dir mehr entreißen.«
Ich küsse sie noch einmal auf die Augenlider.
»Und jetzt lass mich bitte eine Weile hier allein«, sage ich. »Bis zum Morgen möchte ich deine Seele zu Ende gelesen haben. Danach werde ich ein wenig schlafen.«
Sie nickt noch einmal, lässt ihre Augen über die Reihen leuchtender und funkelnder Schädel schweifen und verlässt das Magazin. Als sie die Tür hinter sich geschlossen hat, lehne ich mich an die Wand und sehe die unzähligen feinen, glitzernden Lichter aus den Schädeln an – ewig lange. Es sind die alten Träume, die sie früher hegte, und gleichzeitig auch meine eigenen. Nur um sie endlich wiederzufinden, bin ich den langen Weg durch diese von Mauern umschlossene Stadt gegangen. Nun bin ich am Ziel. Ich nehme einen der Schädel, lege meine Hände auf und schließe langsam die Augen.
37 HARD-BOILED WONDERLAND
LICHT, INTROSPEKTION, SAUBERKEIT
Wie lange ich geschlafen hatte, wusste ich nicht. Jemand rüttelte mich an den Schultern. Was ich zuerst bemerkte, war der Geruch des Sofas. Dann kam der Ärger, dass man mich aus dem Schlaf riss. Alle, alle kamen sie, wie die Heuschrecken im Herbst, und brachten mich um meinen süßen Schlaf!
Und doch wurde ich von etwas in mir gezwungen, nachzugeben und aufzuwachen. Das Etwas in mir zog mir eine große Eisenvase über den Schädel: Jetzt ist keine Zeit zu schlafen.
»Steh auf, bitte«, sagte die Bibliothekarin.
Ich richtete mich auf und öffnete die Augen. Ich hatte einen orangefarbenen Bademantel an. Sie trug ein weißes Herren-T-Shirt und rüttelte mich, als gelte es ihr Leben. In dem weißen T-Shirt und ihrem kleinen weißen Slip wirkte sie wie ein kleines, zerbrechliches Kind. Ein Windstoß nur, und sie würde zu Staub zerwehen. Wo waren bloß all die Mengen Spaghetti, Fisch und Risotto geblieben, die sie verdrückt hatte? Meine Uhr war auch weg. Es war noch dunkel. Wenn meine Augen nicht in Mitleidenschaft gezogen waren, musste es noch Nacht sein.
»Schau auf den Tisch!«, sagte sie.
Ich sah zum Tisch. Dort glitzerte es wie von einem Weihnachtsbaum. Dafür war es allerdings zu klein, und außerdem hatten wir erst Oktober. Die Hände am Aufschlag des Bademantels, starrte ich das Ding auf dem Tisch an. Nein, das war kein Weihnachtsbaum. Es war der Schädel, den ich dort hingestellt hatte. Beziehungsweise den sie dort hingestellt hatte. Ich wusste nicht mehr, wer. Egal. Was dort auf dem Tisch wie ein Weihnachtsbaum glitzerte, war jedenfalls der Einhornschädel, den ich mitgebracht hatte. Lichtpunkte überzogen ihn.
Sie waren winzig klein und das Licht nur schwach. Und doch leuchteten die Punkte über dem Schädel wie die Sterne am Himmelsgewölbe. Das Licht war weiß, matt und mild. Jeder Punkt war wie überlagert vom Licht des nächsten, die Umrisse verschwammen in mildem Nebel, was den Eindruck verstärkte, dass das Licht nicht auf dem Schädel leuchtete, sondern über ihm schwebte. Vom Sofa aus schauten wir uns lange wortlos das kleine Lichtermeer an. Sie hielt sachte meinen Arm, während meine Hände nach wie vor am Aufschlag des Bademantels lagen. Es war noch tiefe Nacht, ringsum herrschte Stille.
»Ist das irgendwie eingebaut?«
Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte schon eine Nacht mit dem Schädel verbracht, da hatte er nicht geleuchtet. Wenn eine Art fluoreszierender Anstrich die Ursache des Lichtes wäre, würde er nicht einmal leuchten und dann wieder nicht. Er würde im Dunkeln immer leuchten. Außerdem: Bevor wir einschliefen, hatte er auch nicht geleuchtet. Nein, das war nicht
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