Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
die Menschen, die hier leben, keine Seele mehr haben – wenn schon, es ist schließlich nicht ihre Schuld. Ich werde wahrscheinlich sogar den Wächter vermissen. Er ist doch auch nur ein Rädchen im Getriebe, einer von vielen, um die die Stadt ihre unlösbaren Fesseln gelegt hat. Irgendetwas hat diesen gigantischen Mauerring errichtet; die Menschen sind bloß hineingeraten und eingepfercht worden, weiter nichts. Ich glaube, ich könnte diese Stadt, ihre Plätze und ihre Menschen lieben. Nur hierbleiben kann ich nicht. Trotzdem liebe ich dies alles, ich liebe es einfach.
In diesem Moment packt mich etwas, leise und undeutlich. Eine Harmonie bleibt plötzlich in mir hängen, wartet beharrlich, als fordere sie etwas ein. Ich mache die Augen auf und spiele den Akkord noch einmal. Dann suche ich mit der rechten Hand nach Tönen, die dazu passen könnten. Mühsam schaffe ich es, die ersten vier Töne zu dem Akkord zu finden. Sie sind wie sanfte Sonnenstrahlen, die vom Himmel her langsam in mein Herz hineintanzen. Die vier Töne brauchen mich, und ich brauche sie.
Ich halte diesen einen Akkordknopf des Bassteils gedrückt und spiele auf der Melodieseite immer wieder diese vier Töne dazu. Sie verlangen nach den nächsten Tönen und einem anderen Dreiklang. Zuerst suche ich den Akkord. Ich finde ihn sofort. Die Melodie kostet mich etwas mehr Mühe, doch die ersten vier Töne führen mich zu den nächsten fünf. Der nächste Akkord mit drei weiteren Tönen folgt auf dem Fuß.
Das ist ein Lied! Noch kein vollständiges, aber die ersten Takte, immerhin. Ich wiederhole die drei Akkorde mit den zwölf Tönen immer und immer wieder. Es muss ein Lied sein, das ich sehr gut kenne.
Danny Boy!
Ich schließe die Augen und spiele es zu Ende. Jetzt, wo mir der Titel eingefallen ist, fließen mir Melodie und Akkorde nur so aus den Fingern, ganz von selbst. Ich spiele das Lied immer und immer wieder. Ich kann ganz genau fühlen, wie die Melodie mein Herz erfüllt, wie sie jeden Muskel meines angespannten Körpers lockert. Ich spüre, wie das lange verschüttete Lied mir im Ohr klingt, wie es mir durch Mark und Bein geht – wie sehr muss ich mich aus tiefster Seele danach gesehnt haben! Ich glaubte das Lied so lange verloren, dass ich sogar den Hunger danach zu fühlen verlernt hatte. Die Musik taut mir die im langen Winter gefrorenen Glieder und Muskeln und meine Seele auf, sie gibt meinen Augen das heißersehnte Licht zurück.
Mir ist, als könnte ich mit der Musik das Atmen der Stadt spüren. Ich bin in der Stadt und die Stadt ist in mir. Sie atmet, bewegt sich im Rhythmus meines Körpers. Sie zittert. Auch die Mauer bebt und wogt. Sie fühlt sich an wie meine eigene Haut.
Ich überlasse mich der Melodie von Danny Boy, spiele das Lied wieder und wieder, ganz lange. Dann setze ich das Instrument auf dem Boden ab, lehne mich an die Wand und schließe die Augen. Ich kann das Beben meines Körpers immer noch spüren. Mir ist, als sei das alles hier ich selbst. Die Mauer, das Tor, die Tiere, der Wald, der Fluss, das Windloch, der See – alles, alles bin bloß ich selbst. All das ist in mir. Selbst der lange Winter ist offenbar ein Teil von mir.
Die Bibliothekarin macht die Augen nicht wieder auf, auch nachdem ich die Konzertina aus der Hand gelegt habe. Tränen quellen unter ihren geschlossenen Lidern hervor, während sie mit beiden Händen meinen Arm fest umklammert hält. Ich lege ihr den Arm um die Schulter und berühre ihre Lider mit den Lippen. Die Tränen sind ganz warm, ihre Haut fühlt sich feucht und zart an. Ein mysteriöser, sanfter Lichtstrahl lässt ihre Wangen erstrahlen und ihre Tränen glitzern. Das Licht kann nicht von der trüben Birne stammen, die im Magazin von der Decke baumelt. Es ist klar wie Sternenlicht und doch warm.
Ich stehe auf und knipse die Lampe aus. Jetzt kann ich die Lichtquelle erkennen – es sind die Schädel! Die Schädel leuchten! Im Zimmer ist es taghell. Das Licht ist sanft wie die Frühlingssonne und still wie der Mondenschein. Mit einem Schlag scheint das vergessene Leuchten, das in unzähligen Schädeln auf den Regalen schlummerte, erwacht zu sein. Lautlos glitzern und funkeln die Schädelreihen wie die Meeresoberfläche in der Morgensonne. Doch obwohl ich genau hineinsehe, fühle ich mich nicht geblendet, meine Augen tun kein bisschen weh. Das Licht hüllt mich vielmehr in wohlige Ruhe und erfüllt meine Seele mit der Wärme alter Erinnerungen. Ich kann spüren, dass meine Augen längst
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