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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Mantel aus grobem Stoff über. Ein mattes Blau, wie ein vor langer Zeit herausgerissener Fetzen Himmel, bar jeder Erinnerung an seine Herkunft. Doch in Gedanken versunken bleibt sie noch eine Zeit lang vor dem erloschenen Ofen stehen.
    Plötzlich scheint ihr wieder eingefallen zu sein, was sie mich fragen wollte: »Sie sind von woanders hierher gekommen?«
    »Ja«, sage ich.
    »Was war das für ein Ort?«
    »Ich kann mich an nichts erinnern«, sage ich. »Wirklich an nichts, es tut mir leid. Als mir der Schatten genommen wurde, habe ich offenbar zugleich die Erinnerung an diese alte Welt verloren. Auf jeden Fall ist sie weit, weit weg.«
    »Ja, aber Sie wissen, was es mit der Seele auf sich hat, nicht wahr?«
    »Ich glaube, ja.«
    »Meine Mutter hatte auch eine Seele«, sagt sie. »Sie verschwand, als ich sieben war. Bestimmt weil sie diese Seele hatte, so wie Sie.«
    »Sie verschwand?«
    »Ja, sie verschwand. Aber hören wir auf davon. Hier bringt es Unglück, von den Verschwundenen zu reden. Erzählen Sie lieber von der Stadt, in der Sie gelebt haben. An irgendeine Kleinigkeit werden Sie sich doch erinnern können?«
    »Es gibt da zwei Dinge«, sage ich. »Erstens, dass die Stadt, in der ich lebte, nicht von einer Mauer umschlossen war, und zweitens, dass wir alle einen Schatten hatten.«

    Ja, wir hatten alle einen Schatten. Als ich in die Stadt hier kam, musste ich meinen beim Wächter abgeben.
    »Damit darfst du die Stadt aber nicht betreten«, sagte der Wächter. »Entweder du verzichtest auf deinen Schatten, oder du kehrst um, eins von beiden.«
    Ich verzichtete auf meinen Schatten.
    Der Wächter hieß mich, mich auf einen freien Platz neben dem Tor zu stellen. Die Drei-Uhr-Nachmittagssonne warf meinen Schatten klar auf den Boden.
    »Steh jetzt still«, sagte der Wächter. Er holte ein Messer aus seiner Tasche, stach mit der scharfen Spitze tief in den Rand zwischen Schatten und Boden und bewegte das Messer auf und ab, um den Schatten zu zähmen, der sich dann auch wunderbar vom Boden lösen ließ.
    Der Schatten zitterte noch ein bisschen, als wollte er sich wehren, doch einmal vom Boden abgezogen, ließ er sich schließlich kraftlos auf eine Bank fallen. Ein vom Körper abgetrennter Schatten sieht viel elender und erschöpfter aus, als ich gedacht hätte.
    Der Wächter schob sein Messer in die Scheide, und wir beide sahen uns den Schatten noch eine Weile an.
    »So für sich genommen ein seltsames Ding, was?«, sagte der Wächter. »Völlig nutzlos, so ein Schatten, bloß Ballast.«
    Ich ging auf den Schatten zu und sagte: »Tut mir leid, aber es sieht so aus, als müsste ich dich für eine Weile allein lassen. Das wollte ich zwar nicht, aber unter den gegebenen Umständen bleibt mir keine andere Wahl. Hältst du es kurzfristig alleine aus?«
    »Kurzfristig – was heißt das, bis wann denn?«, fragte der Schatten.
    Ich gab zu, das nicht zu wissen.
    »Wirst du das nicht nachher bereuen?«, sagte der Schatten leise. »Ich kenne zwar die Umstände nicht genau, aber ist es nicht verrückt, einen Schatten vom Menschen zu trennen? Das ist verkehrt, der ganze Ort hier ist verkehrt – das ist, was ich davon halte. Der Mensch kann ohne Schatten nicht leben, und ohne den Menschen existiert der Schatten nicht. Und trotzdem sind wir jetzt getrennt, du lebst, ich bin da. Da stimmt doch was nicht! Denkst du das nicht auch?« Der Schatten schüttelte den Kopf. »Die Luft hier gefällt mir nicht, sie ist anders als überall sonst. Sie hat weder auf mich noch auf dich einen guten Einfluss. Warum lässt du mich bloß im Stich?«
    Doch es half alles nichts, es war zu spät. Der Schatten war längst von meinem Körper getrennt worden.
    »Das ist bestimmt nur zeitweilig, es wird nicht ewig dauern. Wir werden schon wieder zusammenkommen«, sagte ich.
    Der Schatten seufzte leise und sah mit verschwommenen Augen zu mir auf. Die Drei-Uhr-Nachmittagssonne brannte auf uns beide herunter. Ich hatte keinen Schatten, der Schatten hatte keinen Körper.
    »Wenn das nur gut geht …«, sagte der Schatten. »Ich habe ein schlechtes Gefühl dabei. Lass uns bei der erstbesten Gelegenheit abhauen und dahin zurückgehen, wo wir hergekommen sind, ja? Nur wir beide.«
    »Wir können nicht zurück. Ich wüsste nicht wie. Und du doch auch nicht, oder?«
    »Im Moment nicht. Aber ich werde schon einen Weg finden, und wenn ich dabei draufgehe. Ich möchte mich ab und zu mit dir treffen, damit wir uns besprechen können. Du kommst mich besuchen,

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