Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
ja?«
Ich nickte, legte dem Schatten kurz die Hand auf die Schulter und ging dann zum Wächter zurück. Während meines Gesprächs mit dem Schatten hatte er auf dem Platz herumliegende Steine aufgesammelt und dorthin geworfen, wo sie nicht stören. Als ich näher kam, wischte er sich an den Hemdsärmeln den weißen Staub von den Händen und legte mir seinen starken Arm um die Schultern. Ich war mir nicht sicher, ob das eine Geste der Nähe war oder ob er mir nur zeigen wollte, wie bärenstark er ist.
»Ich werde mich schon um deinen Schatten kümmern«, sagte er. »Er bekommt dreimal am Tag zu essen und darf einmal raus zum Spazierengehen. Also, mach dir keine Sorgen, es gibt keinen Grund dazu.«
»Kann ich ihn ab und zu treffen?«
»Tja, kommt drauf an«, sagte der Wächter. »Wenn Zeit und Umstände es zulassen und wenn es mir passt, kannst du ihn besuchen.«
»Und was ist, wenn ich meinen Schatten wiederhaben will, was muss ich dann tun?«
»Also, anscheinend hast du die Regeln hier noch nicht begriffen«, sagte der Wächter, weiterhin den Arm um meine Schultern gelegt. »In dieser Stadt darf niemand einen Schatten haben, und wer einmal hier ist, kann nie wieder weg. Folglich ist deine Frage kompletter Unsinn.«
So verlor ich meinen Schatten.
Beim Verlassen der Bibliothek biete ich ihr an, sie nach Hause zu begleiten.
»Ach, das ist nicht nötig«, sagt sie. »Ich habe keine Angst im Dunkeln, und Sie wohnen doch in einer ganz anderen Gegend.«
»Ich möchte Sie aber nach Hause bringen«, beharre ich. »Irgendwie bin ich aufgewühlt, ich könnte zu Hause sowieso nicht sofort einschlafen.«
Nebeneinander gehen wir über die Alte Brücke nach Süden. Es ist Frühlingsanfang, und der noch ziemlich kalte Wind fährt in die Weiden auf der Sandbank im Fluss. Das seltsam direkte Mondlicht lässt das Kopfsteinpflaster glänzen. Die feuchte Luft streicht dumpf und schwer über die Erde. Sie löst ihr Haarband, umfasst das offene Haar mit einer Hand, schlägt es nach vorne und steckt es unter den Mantelaufschlag.
»Sie haben wunderschönes Haar«, sage ich.
»Danke«, sagt sie.
»Hat Ihnen schon einmal jemand Komplimente darüber gemacht?«
»Nein, nie. Sie sind der Erste«, sagt sie.
»Was fühlen Sie, wenn Ihnen Komplimente gemacht werden?«
»Ich weiß nicht«, sagt sie und sieht mir ins Gesicht, die Hände in den Manteltaschen vergraben. »Ich weiß zwar, dass Sie mir ein Kompliment über mein Haar gemacht haben, aber in Wirklichkeit ging es gar nicht darum, nicht wahr? Mein Haar hat bei Ihnen irgendetwas anderes ausgelöst, und eigentlich wollten Sie darüber sprechen.«
»Nein, nein. Ich rede von Ihrem Haar.«
Sie sieht zum Himmel, als hätte sie dort etwas verloren, und lächelt. »Bitte entschuldigen Sie. Ich komme bloß mit Ihrer Art zu reden nicht zurecht.«
»Macht nichts. Sie werden sich bald daran gewöhnen«, sage ich.
Sie wohnt im Arbeiterviertel, einer heruntergekommenen Gegend im Südwesten des Fabrikgeländes. Das ganze Fabrikgelände ist eine einsame, fast ausgestorbene Gegend. Auch der große Kanal, der früher randvoll gewesen und auf dessen klarem Wasser die Frachter und Barkassen hin- und hergefahren sein sollen, hat jetzt seine Schleusen geschlossen. An einigen Stellen ist er ganz ausgetrocknet, sodass man das Kanalbett sehen kann. Weiß erstarrter Schlamm kommt zum Vorschein wie die runzligen Leichen riesiger Steinzeitlebewesen. Am Ufer sind zum Verladen und Löschen der Fracht breite Steintreppen eingelassen, doch sie werden jetzt nicht mehr benutzt, meterhohes Unkraut treibt seine Wurzeln in die Risse im Stein. Alte Flaschen und verrostete Maschinenteile lugen aus dem Schlamm, daneben modert ein flaches Holzboot vor sich hin.
Entlang des Kanals und seiner Seitenarme erstrecken sich verwaiste Fabrikhallen. Die Tore sind geschlossen, das Fensterglas verschwunden, die Wände efeuüberwuchert, das Geländer der Feuerleitern von Rost zerfressen, und überall wächst Unkraut.
Hinter den Reihen von Fabrikhallen liegt die Arbeitersiedlung. Lauter heruntergekommene fünfstöckige Häuser. Früher seien dies elegante Apartmenthäuser für Wohlhabende gewesen, sagt sie, doch die Zeiten hätten sich geändert, und nach und nach seien sie in Klein- und Kleinstwohnungen unterteilt worden, in die mittellose Arbeiter zogen. Und heutzutage seien diese Leute nicht einmal mehr Arbeiter. Die Fabriken seien nämlich fast alle geschlossen worden. Die Fähigkeiten der Arbeiter seien nicht mehr
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