Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
war rundherum mit Klebeband umwickelt, sodass der Gegenstand wie ein modernes Kunstobjekt aussah. Es hatte die Form einer in die Länge gezogenen Wassermelone und war von nicht nennenswertem Gewicht. Ich nahm das Messer und die Schachtel vom Tisch und schälte auf der geräumigen Platte sorgsam das Klebeband und das Zeitungspapier ab. Zum Vorschein kam ein Tierschädel.
Na großartig, dachte ich. Hatte der Alte etwa gedacht, ich würde mich freuen, wenn ich einen Schädel bekäme? Jemandem einen Tierschädel zu schenken war, wie man es auch drehen mochte, nicht normal.
Der Schädel ähnelte dem eines Pferdes, war aber wesentlich kleiner. Jedenfalls stand nach meinen zoologischen Kenntnissen außer Frage, dass er auf den Schultern eines nicht allzu großen Säugetiers gesessen haben musste, eines pflanzenfressenden Huftieres mit länglicher Kopfform. Ich sagte mir die Namen solcher Tiere her. Reh, Ziege, Schaf, Antilope, Rentier, Esel … Sicher gab es noch eine ganze Menge anderer, aber mehr fielen mir nicht ein.
Fürs Erste stellte ich den Schädel auf den Fernseher. Richtig zur Geltung kam er dort nicht, aber einen anderen Platz wusste ich nicht. Hemingway hätte ihn bestimmt auf den Kamin neben seine Elchschädel gestellt, aber in meiner Wohnung gab es selbstredend keinen Kamin. Ich hatte auch kein Sideboard, ja nicht einmal ein Schuhschränkchen. Der Fernseher war deshalb der einzige Platz, wo ich den Schädel dieses Tieres, dessen Namen ich nicht wusste, abstellen konnte.
Als ich den Rest des Füllmaterials vom Boden der Hutschachtel in den Müllsack leerte, fand ich noch ein längliches, in Zeitungspapier gewickeltes Päckchen. Als ich es auswickelte, entpuppte es sich als Edelstahlzange der Art, wie sie der Alte zum Beklopfen der Schädel benutzt hatte. Ich nahm sie in die Hand und sah sie mir eine Weile an. Im Gegensatz zu dem Schädel wog sie schwer in der Hand und vermittelte etwas von der Strenge des elfenbeinernen Taktstockes, mit dem Furtwängler die Berliner Philharmoniker dirigiert.
Ich konnte nicht anders: Ich trat mit der Zange vor den Fernseher und klopfte dem Schädel damit sachte auf die Stirn. Ein tiefes Vibrato wie das nasale Knurren eines großen Hundes. Ich hatte ein hohles Klong oder ein scharfes, hartes Klacken erwartet und war daher durchaus ein wenig überrascht, allerdings nicht so sehr, dass ich den Ton hätte beanstanden wollen. Der Schädel brummte nun einmal, wie er brummte, da gab es nichts zu bekritteln. Einwände würden den seltsamen Ton nicht verändern, und die Seltsamkeit des Tons änderte ihrerseits nichts.
Schließlich hatte ich genug davon, den Schädel zu betrachten und zu beklopfen, ging weg vom Fernseher, setzte mich aufs Bett, nahm das Telefon auf den Schoß und wählte die offizielle Agentur des Systems an, um meine nächsten Termine zu erfragen. Mein Agent meldete sich, sagte, in vier Tagen läge etwas an, ob das in Ordnung gehe. Ja, sagte ich. Zuerst dachte ich daran, mir, um allen eventuellen Problemen aus dem Weg zu gehen, bestätigen zu lassen, dass es mit dem Shuffling seine Richtigkeit habe, wollte aber keine langen Erklärungen geben und ließ es. Die Unterlagen waren korrekt gewesen und das Honorar anständig. Außerdem hatte der Alte aus Geheimhaltungsgründen den Agenten umgangen. Das Ganze zu komplizieren bestand keine Notwendigkeit.
Hinzu kam, dass ich meinen Agenten nicht besonders mochte. Er war um die dreißig, groß, schlank, der Typ, der glaubt, alles und jedes selbst absegnen zu müssen. Mich in die Lage zu versetzen, mit so jemandem langatmige Gespräche führen zu müssen, wollte ich nach Möglichkeit vermeiden.
Sobald die bürokratischen Angelegenheiten abgehakt waren, legte ich auf, setzte mich im Wohnzimmer aufs Sofa, machte eine Dose Bier auf und schaute mir ein Humphrey-Bogart-Video an: Key Largo – Hafen des Lasters. Lauren Bacall in Key Largo – ich liebe sie. In Tote schlafen fest ist sie auch gut, ohne Frage, aber in Key Largo hat sie, scheint mir, etwas Besonderes, etwas, das in ihren anderen Filmen nicht zur Geltung kommt.
Den Blick auf den Bildschirm gerichtet, wanderten meine Augen unweigerlich zu dem Tierschädel hoch. Ich konnte mich einfach nicht wie sonst auf den Film konzentrieren und hielt das Band an der Stelle, wo der Hurrikan aufkommt, an; auf den Rest des Films verzichtete ich. Stattdessen schaute ich mir, Bier trinkend, den Schädel auf dem Fernseher an. Er kam mir, je länger ich schaute, irgendwie vertraut vor.
Weitere Kostenlose Bücher