Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
dicke Mädchen nackt vorzustellen, bezahlte und verließ das Restaurant. Dann ging ich zu Fuß zu der öffentlichen Bücherei, die in der Nähe lag, und fragte die dünne, langhaarige junge Frau, die an der Auskunft saß: »Haben Sie etwas zu Säugetierschädeln da?«
Sie war in ein Taschenbuch vertieft, sah aber doch zu mir auf: »Bitte?«, sagte sie.
»Et-was zu Säu-ge-tier-schä-deln«, wiederholte ich, jede Silbe betonend.
»Säugetierschädel«, sagte die junge Frau. Sie sang es beinahe. Es hörte sich wie ein Gedichttitel an. Wie wenn ein Dichter seinem Publikum den Titel des Gedichtes mitteilt, das er gleich rezitieren wird. Ich sann einen Moment darüber nach, ob die Frau wohl jede Anfrage auf diese Weise wiederholte.
Die Geschichte des Puppentheaters zum Beispiel.
Oder Einführung in das Tai chi.
Wie amüsant es doch wäre, wenn es Gedichte mit solchen Titeln gäbe, dachte ich.
Sie überlegte eine Weile, dabei auf der Unterlippe kauend. »Einen Augenblick bitte. Ich sehe nach«, sagte sie, drehte sich am Tisch um und tippte auf der Tastatur ihres Computers das Wort Säugetier. Auf dem Bildschirm erschienen zirka zwanzig Buchtitel. Zwei Drittel davon löschte sie mit dem Lichtstift. Den Rest speicherte sie ab und gab dann das Wort Skelett ein. Zwei von den erscheinenden sieben oder acht Titeln ließ sie stehen und fügte sie der Liste der zuvor abgespeicherten an. Wie sich doch die Bibliotheken verändert haben! Die Zeiten, als die Leihkarten in hinten in die Bücher geklebten Taschen steckten, scheinen wie ein ferner Traum. Als Kind habe ich mir immer gern die Datumsstempel auf den Leihkarten angesehen.
Während sie mit geübten Fingern die Computertastatur bediente, betrachtete ich ihren schlanken Rücken und ihr langes Haar. Ich war mir ziemlich unschlüssig, ob sie mir gefiel oder nicht. Sie war schön, freundlich, offenbar auch gescheit und sprach wie in Gedichttiteln. Es schien keinen Grund zu geben, dass sie mir nicht gefallen sollte.
Sie drückte die Kopiertaste und reichte mir den Bildschirmausdruck. »Aus diesen neun Titeln können Sie wählen«, sagte sie.
1. Die Säugetiere.
2. Das Säugetier in Bildern und Graphiken.
3. Das Säugetierskelett.
4. Geschichte der Säugetiere.
5. Ich, das Säugetier.
6. Die Anatomie des Säugetiers.
7. Das Säugetiergehirn.
8. Tierskelette.
9. Knochengerüste erzählen.
Auf meine Karte konnte ich drei Titel entleihen. Ich nahm die Nummern 2, 3 und 8. Die beiden Titel Ich, das Säugetier und Knochengerüste erzählen versprachen interessant zu sein, hatten aber mit dem anstehenden Problem direkt offenbar nichts zu tun, sodass ich ihre Entleihe auf ein andermal verschob.
» Das Säugetier in Bildern und Graphiken gehört zum Präsenzbestand, das können Sie nicht ausleihen, tut mir leid«, sagte sie und kratzte sich mit dem Kugelschreiber die Schläfe.
»Bitte«, sagte ich, »das ist eine ganz wichtige Sache. Ich bring das Buch ganz bestimmt morgen Vormittag wieder zurück, ich mach keinen Ärger, könnte ich es nicht für einen Tag mitnehmen, nur einen Tag?«
»Die Bild- und Graphikserie ist beliebt, und wenn auffällt, dass ich aus dem Präsenzbestand verliehen habe, bekomme ich von oben mächtig Druck.«
»Nur einen Tag. Das fällt doch nicht auf.«
Sie war unschlüssig. Dabei legte sie die Zungenspitze an die unteren Schneidezähne. Sie hatte eine süße, rosafarbene Zunge.
»Okay, ich geb’s raus. Aber wirklich nur dieses eine Mal. Und bitte bis morgen früh halb zehn zurückbringen!«
»Danke«, sagte ich.
»Gern geschehen«, sagte sie.
»Ich würde dir auch gern einen Gefallen tun, wie kann ich mich erkenntlich zeigen?«
»Gegenüber ist eine Eisdiele, ein 3 1. Kaufst du mir eins? Ein Doppeltes im Hörnchen, unten Pistazie, oben Kaffee-Rum, kannst du das behalten?«
»Ein Doppeltes im Hörnchen, unten Pistazie, oben Kaffee-Rum.«
Ich ging also zu dem 3 1 gegenüber, und sie holte unterdes von hinten meine Bücher. Als ich zurückkam, war sie noch nicht wieder da, sodass ich mit dem Hörnchen in der linken Hand vor der Auskunft verharrte. Die alten Männer, die auf der Bank saßen und Zeitung lasen, schauten mit großen Augen mal zu mir, mal zu dem Eis in meiner Hand. Das Eis war glücklicherweise sehr hart, es würde noch etwas dauern, bis es zu schmelzen begann. Wartend, mit einem Eis in der Hand, ohne es zu essen, fühlte ich mich gleichwohl merkwürdig unbehaglich, wie eine im Stich gelassene Bronzestatue.
Auf dem
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