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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Tisch und nahm den Schädel aus dem Plastiksack. Eines immerhin war klar geworden: Die Semioten hatten es auf den Schädel abgesehen. Er musste für sie also einige Bedeutung haben.
    Zurzeit lag ich mit den Semioten gleichauf. Ich hatte den Schädel, kannte aber seine Bedeutung nicht. Die Semioten kannten seine Bedeutung – oder vermuteten sie jedenfalls –, hatten aber den Schädel nicht. Fifty-fifty. Mir standen nun zwei Vorgehensweisen zur Wahl. Die eine war, das System zu kontaktieren, den Sachverhalt zu erklären und Schutz vor den Semioten anzufordern beziehungsweise den Schädel in Sicherheit bringen zu lassen. Die andere war, mich mit dem dicken Mädchen in Verbindung zu setzen und mir die Bedeutung des Schädels erklären zu lassen. In dieser Situation das System mit hereinzuziehen behagte mir gar nicht. Höchstwahrscheinlich würde man mich verschiedener lästiger Nachforschungen unterziehen wollen. Große Organisationen lagen mir einfach nicht. Man war nicht flexibel, alles und jedes kostete Zeit und Mühe. Es gab einfach zu viele Dummköpfe.
    Mit dem dicken Mädchen Verbindung aufzunehmen war allerdings nicht möglich: Ich kannte die Nummer ihres Büros nicht. Ich könnte sie zwar direkt aufsuchen, aber jetzt das Haus zu verlassen war zu gefährlich, und außerdem stand nicht zu vermuten, dass man mich in dem streng bewachten Bürogebäude einfach so vorlassen würde.
    Ich beschloss also, nichts zu unternehmen.
    Ich griff mir die Edelstahlzange und klopfte noch einmal leicht auf den Schädel. Das gleiche Brummen wie zuvor. Ein irgendwie trauriges Geräusch, als lebte dieses mir unbekannte Tier, als lebte es und stöhnte.

    Warum brachte der Schädel diesen merkwürdigen Laut hervor? Ich nahm ihn in die Hand und sah ihn mir aufmerksam an. Dann beklopfte ich ihn noch einmal leicht mit der Zange. Dasselbe Brummen, das mir aber, wenn ich genau hinhörte, von nur einer Stelle des Schädels auszugehen schien.
    Ich klopfte, bis es mir schließlich gelang, die Stelle zu lokalisieren. Das Brummen kam aus einer kleinen Vertiefung in der Stirn, die einen Durchmesser von etwa zwei Zentimetern hatte. Sachte tastete ich sie mit einem Finger ab. Sie fühlte sich etwas rauer an als normaler Knochen. Als ob etwas gewaltsam herausgebrochen worden wäre. Irgendetwas – beispielsweise ein Horn …
    Ein Horn?
    Wenn das zutraf, dann hielt ich den Schädel eines Einhorns in der Hand. Ich schlug noch einmal Das Säugetier in Bildern und Graphiken auf und suchte nach Tieren mit nur einem Horn. Es gab keine, ich konnte suchen, solange ich wollte. In Frage gekommen wäre allenfalls ein Rhinozeros, aber von der Größe und der Kopfform her konnte das nicht sein.
    Ich holte Eis aus dem Kühlschrank und machte mir einen Old Crow on the rocks – ich musste etwas trinken. Der Tag neigte sich seinem Ende zu, ein Whiskey schien mir angebracht. Dann aß ich Spargel aus der Dose. Ich liebe weißen Spargel. Nach dem Spargel aß ich zwei Scheiben Toastbrot, mit geräucherten Austern dazwischen. Danach trank ich noch einen Whiskey.
    Aus praktischen Gründen beschloss ich, den ehemaligen Träger des Schädelknochens für ein Einhorn zu halten. Alles andere würde mich nicht weiterbringen.

    ICH BIN IN DEN BESITZ EINES EINHORNSCHÄDELS GELANGT .

    Na großartig, dachte ich. Warum passierten dauernd so merkwürdige Sachen? Und warum gerade mir? Ich war ein realistischer, allein arbeitender Kalkulator, weiter nichts. Ich war weder besonders ehrgeizig noch habgierig. Ich hatte keine Familie, keine Freunde, keine Geliebte. Ich war einer, der möglichst viel auf die hohe Kante legen und nach seiner Laufbahn als Kalkulator ein stilles Pensionärsdasein führen wollte, Cello lernend meinetwegen oder auch Griechisch. Warum musste ausgerechnet ich mit solchen Albernheiten wie Einhörnern und Dephonatoren zu tun haben?
    Ich trank meinen zweiten Whiskey aus, ging ins Schlafzimmer, suchte im Telefonbuch die Nummer der Stadtbücherei heraus, wählte und verlangte die Auskunft. Es dauerte zehn Sekunden, dann war die langhaarige junge Frau am Apparat.
    » Das Säugetier in Bildern und Graphiken «, sagte ich.
    »Vielen Dank für das Eis«, sagte sie.
    »Gern geschehen«, sagte ich. »Ich hätte übrigens noch eine Bitte, geht das?«
    »Das kommt auf die Bitte an«, sagte sie.
    »Könntest du dich für mich über Einhörner kundig machen?«
    »Einhörner?«, wiederholte sie.
    »Zu viel verlangt?«
    Ein Weile blieb es ruhig. Wahrscheinlich kaute sie auf der

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