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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Gasgesellschaft. Ich ließ die Kette, wo sie war, öffnete die Tür einen Spalt und fragte, was er wünsche.
    »Gas, Routineuntersuchung«, sagte der Mann.
    »Einen Augenblick«, gab ich zurück, holte das Messer vom Tisch im Schlafzimmer und schob es in die Hosentasche; dann machte ich auf. Die Gasleitungen waren erst letzten Monat auf Lecks untersucht worden. Außerdem wirkte der Mann irgendwie unnatürlich.
    Ich tat jedoch völlig unbeteiligt und sah mir weiter das Video an. Mit einem Gerät, das wie ein Blutdruckmesser aussah, prüfte der Mann zuerst die Leitung im Bad, dann ging er in die Küche. Auf dem Küchentisch lag immer noch der Tierschädel. Ich ließ den Fernseher laufen und schlich zur Küche; wie ich erwartet hatte, wollte der Mann den Schädel gerade in einer schwarzen Plastiktüte verschwinden lassen. Ich klappte das Messer auf, sprang in die Küche, nahm den Mann in den Würgegriff und setzte ihm direkt unter der Nase das Messer an. Überstürzt ließ er die Plastiktüte auf den Tisch fallen.
    »Ich hab’s nicht böse gemeint«, rechtfertigte er sich mit zitternder Stimme. »Ich hab das Ding gesehen und wollte es haben. Es kam einfach über mich. Verzeihen Sie bitte!«
    »Nichts da!«, sagte ich. Ein Gasmann sieht auf einem Küchentisch einen Schädel, ihn überkommt’s, er muss ihn haben – hat man so etwas schon gehört? »Sag die Wahrheit, oder ich schneid dir die Kehle durch!«, sagte ich. Es klang wie die reinste Lüge, aber dem Mann kam es offenbar nicht so vor.
    »Warten Sie, ich sag’s, ich sag alles«, sagte er. »Man hat mir Geld gegeben, damit ich ihn stehle. Zwei Männer haben mich auf der Straße angesprochen, ob ich nicht was nebenbei verdienen wolle, und mir fünfzigtausend Yen gegeben. Wenn ich den Schädel brächte, bekäme ich noch mal fünfzigtausend. Ich wollte das gar nicht, aber einer von den beiden war ein richtiger Schrank, mit dem wollte ich mich nicht anlegen. Da hab ich’s wider Willen gemacht. Bringen Sie mich nicht um, bitte! Ich habe zwei Töchter, beide auf dem Gymnasium, in der Oberstufe.«
    »Beide in der Oberstufe?«, fragte ich leicht beunruhigt.
    »Ja, elfte und dreizehnte Klasse«, sagte der Mann.
    »Soso«, sagte ich. »Welches Gymnasium?«
    »Die ältere geht aufs Städtische Shimura-Gymnasium, die jüngere aufs Futaba in Yotsuya«, sagte der Mann. Diese Kombination war so unnatürlich, dass sie nur wahr sein konnte. Ich beschloss, dem Mann zu glauben.
    Ich fischte ihm, vorsichtshalber das Messer weiter an seinem Hals, das Portemonnaie aus der Gesäßtasche und sah nach, was drin war. 67 000 Yen, davon 50 000 in nagelneuen Zehntausendern. Dazu ein Ausweis der Tokyoter Gaswerke und ein Familienfoto in Farbe. Die beiden Mädchen waren im Sonntagsstaat. Schönheiten waren sie beide nicht gerade. Da sie die gleiche Pose einnahmen, war nicht zu entscheiden, welche aufs Städtische Gymnasium und welche aufs Futaba ging. Außerdem enthielt das Portemonnaie noch eine Zeitkarte für die Strecke Sugamo – Shinanomachi. Der Mann sah nicht gefährlich aus, also klappte ich das Messer zusammen und ließ ihn los.
    »Okay, verschwinde!«, sagte ich und gab ihm sein Portemonnaie zurück.
    »Vielen Dank«, sagte der Mann. »Aber was soll denn nun werden? Ich hab das Geld genommen und komme mit leeren Händen.«
    Das wüsste ich auch nicht, sagte ich. Die Semioten – höchstwahrscheinlich waren es Semioten – stellten je nach Lage alles Mögliche an. Und zwar ganz bewusst, damit sich kein leicht zu durchschauendes Handlungsmuster herausschälte. Vielleicht würden sie dem Mann die Augen ausstechen. Oder ihm für seine Bemühungen danken und die restlichen fünfzigtausend geben. Da steckte man einfach nicht drin.
    »Einer war ein Schrank, ja?«, fragte ich.
    »Ja, ein Riesenkerl. Der andere war ein Zwerg. Knapp einsfünfzig, und gut angezogen. Die beiden waren jedenfalls ein furchteinflößendes Gespann.«
    Ich erklärte ihm, wie er vom Parkplatz aus zum Hinterausgang hinauskonnte. Der Hinterausgang des Hauses war ein schmaler Gang, von außen schwer zu erkennen. Mit ein bisschen Glück würden ihn die beiden nicht entdecken.
    »Haben Sie vielen Dank«, sagte der Mann erleichtert. »Darf ich darauf rechnen, dass Sie auch meiner Firma nichts von der Sache sagen?«
    Ich sagte, ich würde nichts sagen. Dann setzte ich den Kerl vor die Tür, schloss ab und legte die Kette vor. Anschließend hockte ich mich an den Küchentisch, legte das zusammengeklappte Messer auf den

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