Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
handtellergroßes Stück Holz auf, zielt auf die Seemitte und wirft. Das Holz schwimmt gerade fünf Sekunden auf der Wasseroberfläche, da wird es plötzlich von ruckartigem Zittern erfasst und verschwindet schließlich, als wäre es von unten gepackt und unter Wasser gezogen worden. Es kommt nicht wieder hoch.
»Na bitte, wie ich gesagt habe – glaubst du mir jetzt, dass es da unten starke Strudel gibt?«
Wir setzen uns ungefähr zehn Meter vom Ufer entfernt auf die Wiese und essen von dem Brot, das ich in meinen Taschen habe.Von weitem betrachtet vermittelt die Landschaft um uns nichts als friedliche Ruhe. Herbstblumen setzen bunte Tupfer auf die Wiese, das Laub ist leuchtend rot – und mittendrin die Wasseroberfläche des Sees, spiegelglatt, nicht das kleinste Fältchen. Hinter dem See türmen sich Kalkklippen, darüber thront schwarz die Mauer aus Ziegelstein. Außer dem Atmen des Sees ist alles still, nicht einmal die Bäume rauschen.
»Wieso willst du unbedingt eine Karte haben?«, fragt sie. »Verlassen können wirst du diese Stadt nicht mehr, mit oder ohne Karte.« Sie fegt die Brotkrumen aus dem Schoß und blickt auf den See hinaus. »Willst du die Stadt verlassen?«
Ich schüttele schweigend den Kopf. Ob das nun Nein bedeutet oder ob es nur heißt, dass ich mich nicht entscheiden kann, weiß ich selbst nicht. Nicht einmal das weiß ich mehr!
Ich sage: »Ich weiß es nicht. Ich will bloß die Stadt kennen lernen. Wie sie aussieht, wie sie entstanden ist, wie die Menschen leben, das will ich wissen. Ich will wissen, was mich bestimmt, was mich bewegt. Was danach kommt, weiß ich auch nicht.«
Sie schüttelt langsam den Kopf, nach rechts, nach links, dann sieht sie mir tief in die Augen. »Ein Danach gibt es nicht«, sagt sie. »Ja, weißt du denn nicht? Hier ist das wahre Ende der Welt. Wir sind dazu verdammt, für immer hierzubleiben.«
Ich lege mich auf den Rücken und sehe in den Himmel. Ein Himmel, in den ich sehen kann, ist immer dunkel bewölkt. Morgens hat es geregnet, und das Gras fühlt sich noch nass und kalt an, trotzdem hüllt mich der wohlige Duft der Erde ein.
Flügelschlagen – ein paar Wintervögel fliegen aus dem Gebüsch auf und verschwinden über die Mauer, Richtung Süden. Nur Vögel können die Mauer überwinden. Die dicken, schweren Wolken hängen tief. Sie kündigen den strengen Winter an, der vor der Türe steht.
13 HARD-BOILED WONDERLAND
FRANKFURT, DIE TÜR, EINE EIGENSTÄNDIGE ORGANISATION
Die Wahrnehmung setzte wie immer von den Rändern des Sehfeldes her ein. Zuallererst verankerten sich die Badezimmertür, die sich am rechten Rand befand, und die Stehlampe links außen in meinem Bewusstsein, bis es allmählich wie die sich zur Mitte hin zuziehende Eisdecke eines Sees nach innen wanderte. Genau im Zentrum meines Sehfeldes befand sich der Wecker, dessen Zeiger auf 11 Uhr 26 standen. Den Wecker hatte ich einmal bei einer Hochzeitsfeier als Geschenk bekommen. Um den Summer abzuschalten, musste man gleichzeitig links einen roten und rechts einen schwarzen Knopf drücken. Anders ließ sich das Summen nicht abstellen. Ein origineller Mechanismus zur Verhinderung des oft anzutreffenden Verhaltens, den rasselnden Wecker im Halbschlaf mit einem Knopfdruck abzuschalten, um anschließend wieder einzudösen; tatsächlich musste ich mich, um gleichzeitig den linken und rechten Knopf betätigen zu können, im Bett aufrichten und den Wecker auf die Knie stellen, kam also nicht umhin, einen oder zwei bewusste Schritte in die Welt des Wachseins zu tun. Bekommen hatte ich den Wecker, ich wiederhole das, bei irgendeiner Hochzeitsfeier. Bei wessen Hochzeit, weiß ich nicht mehr. Als ich Mitte zwanzig war und noch Freunde und Bekannte hatte, wenn auch wenige, gab es ein paar Jahre hintereinander Hochzeiten, und auf einer davon bekam ich den Wecker. Aus freien Stücken hätte ich mir ein so lästiges Gerät, bei dem man, um den Summer abzustellen, zwei Knöpfe gleichzeitig drücken musste, nie und nimmer zugelegt. Normalerweise komme ich gut aus dem Bett.
Als sich mein Sehfeld um den Wecker herum verdichtete, nahm ich ihn automatisch auf die Knie und drückte mit beiden Händen den roten und den schwarzen Knopf. Erst da merkte ich, dass er gar nicht gesummt hatte. Ich war nicht im Bett gewesen, hatte folglich auch den Wecker nicht gestellt, sondern ihn nur, wie ich das manchmal tat, auf dem Küchentisch platziert. Ich hatte geshuffelt. Den Wecker abzustellen war nicht nötig.
Ich
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