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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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stellte ihn wieder hin und sah mich um. Im Zimmer hatte sich nicht das Geringste verändert. Die roten Leuchten zeigten an, dass das Warnsystem eingeschaltet war, abseits auf dem Tisch stand die leere Kaffeetasse. In dem gläsernen Untersetzer, den die Bibliothekarin als Aschenbecher benutzt hatte, lag der kerzengerade Stummel der Zigarette, die sie zum Schluss geraucht hatte. Eine Marlboro Light. Keine Lippenstiftspuren. Sie hatte, wenn ich es recht überlegte, überhaupt kein Makeup getragen.
    Danach sah ich mir das unmittelbar vor mir liegende Notizheft und die Bleistifte an. Von den fünf säuberlich angespitzten Bleistiften, Härtegrad F, waren zwei zerbrochen und zwei bis auf die Zackenkrause stumpf geschrieben; nur einer war spitz wie zuvor. Der Mittelfinger meiner rechten Hand war ein wenig taub – jene Taubheit, die sich einstellt, wenn man lange schreibt. Das Shuffling war vollendet. Sechzehn Seiten des Notizheftes waren eng mit Zahlenwerten beschrieben.
    Ganz nach Vorschrift verglich ich die Zahlenmenge der gewaschenen Daten mit den Shuffling-Kolumnen und verbrannte dann die ursprüngliche Liste in der Spüle. Das Notizheft steckte ich in die Sicherheitstasche und verstaute sie mit dem Tonbandgerät im Tresor. Dann setzte ich mich im Wohnzimmer aufs Sofa und tat einen Seufzer. Die Hälfte der Arbeit hatte ich hinter mir. Mindestens einen ganzen Tag hatte ich nun frei.
    Ich goss mir zwei Fingerbreit Whiskey ein, schloss die Augen und trank ihn in zwei Schlucken. Warm rann der Alkohol durch die Kehle, durch die Speiseröhre, in den Magen. Dann trug das Blut die Wärme in alle Körperteile. Zuerst wärmte es meine Brust und die Wangen, danach die Hände und zuletzt die Beine. Ich ging ins Bad, putzte mir die Zähne, trank zwei Glas Wasser, pinkelte, spitzte anschließend in der Küche die Bleistifte neu an und legte sie in der Schreibtischablage ordentlich nebeneinander ab. Dann stellte ich den Wecker ans Kopfende des Bettes und schaltete den Anrufbeantworter aus. Der Wecker zeigte 11 Uhr 57. Morgen würde ich den ganzen Tag nichts tun müssen. Eilig legte ich meine Kleider ab, zog meinen Schlafanzug an, kroch ins Bett, zog mir die Bettdecke bis unters Kinn und löschte das Licht. Jetzt kannst du zwölf Stunden schlafen, dachte ich. Zwölf Stunden völlig ungestört schlafen. Die Vögel mochten singen, die Leute in die Bahnen steigen und zur Arbeit fahren, irgendwo auf der Welt mochte ein Vulkan ausbrechen, im Nahen Osten eine bewaffnete Einheit der Israelis ein Dorf niedermachen – ich jedenfalls würde schlafen.
    Dann sann ich darüber nach, was für ein Leben ich führen würde, sobald ich mich als Kalkulator zur Ruhe gesetzt hätte. Ich hätte genug gespart, zusammen mit der Rente würde das für ein ruhiges Leben reichen; ich würde Griechisch lernen und Cello. Ich würde mit dem Auto in die Berge fahren, auf dem Rücksitz mein Cello, und dort nach Herzenslust üben.
    Mit etwas Glück könnte ich mir vielleicht sogar ein kleines Häuschen in den Bergen kaufen. Eine hübsche kleine Hütte mit einer richtigen Küche. Ich würde dort lesen, Musik hören, alte Videos anschauen und kochen. Kochen – dabei fiel mir die langhaarige Frau von der Bibliotheksauskunft ein. Vielleicht wäre es nicht schlecht, wenn sie auch da wäre, in meiner Hütte in den Bergen. Ich würde kochen, und sie würde essen.
    Mit dem Gedanken ans Kochen fiel ich in Schlaf. So plötzlich, als stürze der Himmel ein. Das Cello, die Hütte, das Kochen, alles zerstob, erlosch im Nichts. Nur ich blieb zurück, schlafend wie ein Murmeltier.
    Jemand bohrte mir ein Loch in den Schädel und pulte mit einem hart zusammengedrehten Papierstab darin herum. Der Stab war sehr lang, immer mehr, immer mehr wurde in meinen Schädel gestopft. Ich wedelte mit der Hand, um ihn zu vertreiben, aber das Wedeln nützte nichts, er drang immer tiefer in meinen Schädel ein.
    Ich richtete mich auf und presste beide Hände an den Kopf, aber ein Stab war nicht da. Auch kein Loch. Es klingelte. Es klingelte ununterbrochen. Ich tappte nach dem Wecker, stellte ihn auf die Knie und presste mit beiden Händen den roten und den schwarzen Knopf. Es klingelte weiter. Es war das Telefon. Der Wecker stand auf 4 Uhr 18. Draußen war es noch dunkel – also 4 Uhr 18 morgens.
    Ich stieg aus dem Bett, lief in die Küche und nahm ab. Jedes Mal, wenn nachts das Telefon klingelt, nehme ich mir vor, es das nächste Mal vor dem Schlafengehen auf alle Fälle mit ins Schlafzimmer

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