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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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hier.«
    »Zerstörung?« Ich erschrak. »Was meinen Sie damit?«
    »Zerstörung heißt … Zerstörung, schlicht und einfach. Schau dir die Tür an«, sagte der Knirps und zeigte mit dem Finger auf die verbogene, aus den Scharnieren gesprengte Eingangstür. »Zerstörung um der Zerstörung willen. Wir werden hier alles demolieren.«
    »Wozu?«
    »In einem Wort kann ich das nicht erläutern, und selbst wenn, würde das nichts daran ändern, dass wir die Wohnung demolieren werden. Also sag, was dir wichtig ist. Wir verfahren entsprechend.«
    »Das Videogerät«, lenkte ich ein. »Und der Fernseher. Die Geräte waren teuer, außerdem hab ich sie gerade erst gekauft. Und mein Whiskeyvorrat im Küchenschrank.«
    »Was noch?«
    »Meine Lederjacke und mein neuer dreiteiliger Maßanzug.«
    »Was noch?«
    Ich überlegte einen Augenblick, ob ich sonst noch etwas Wertvolles besaß. Nein, nichts, das war alles. Ich gehörte nicht zu denen, die ihre Wohnungen zu Schatzkammern umfunktionieren.
    »Das ist alles«, sagte ich.
    Der Knirps nickte. Der Riese nickte auch.
    Zuerst machte der Riese die Küchen- und Einbauschränke auf. Dann zog er den Bullworker, mit dem ich manchmal trainiere, aus dem Einbauschrank, führte ihn sich hinters Kreuz und drückte ihn bis zum Anschlag zusammen. So weit hatte ich noch nie jemand einen Bullworker zusammendrücken sehen. Das war nicht von schlechten Eltern.
    Dann packte er das Gerät mit beiden Händen, wie einen Baseballschläger, und ging ins Schlafzimmer. Ich lehnte mich vor, um zu sehen, was er machte. Der Riese stellte sich vor den Fernseher, holte mit dem Bullworker weit aus und ließ ihn auf den Bildschirm sausen. Glas splitterte, hundert Blitze blitzten, und der Fernseher – 72er Schirm! –, den ich erst vor drei Monaten gekauft hatte, lag da wie eine zerschellte Wassermelone.
    »Moment mal …«, sagte ich und wollte aufspringen, aber der Knirps hielt mich zurück, indem er mit der flachen Hand auf den Tisch hieb.
    Der Riese bemächtigte sich nun des Videogerätes und hämmerte es mit der Armaturenseite mehrmals gegen eine Kante des Fernsehers. Ein paar Schalter sprangen ab, Kabel schlossen kurz; wie eine gerettete Seele, die gen Himmel fährt, stieg eine Säule weißen Rauches auf. Als der Riese sicher war, dass das Videogerät seinen Geist aufgegeben hatte, warf er den Schrott zu Boden und zog ein Messer aus der Tasche. Mit einem einfachen, aber eindeutigen Klicken sprang die scharfe Klinge heraus. Dann machte er den Kleiderschrank auf und zerfetzte meine Lederjacke und den Brooks-Brothers-Anzug, die mich zusammen fast zweihunderttausend Yen gekostet hatten.
    »Was soll der Scheiß?«, schrie ich den Knirps an. »Sie haben gesagt, die wertvollen Sachen bleiben heil!«
    »Das habe ich nicht gesagt«, antwortete er ungerührt. »Ich habe dich gefragt, was dir am wichtigsten ist. Kein Wort, dass es verschont bleibt. Zuerst wird das Wichtigste zerstört. Das ist doch klar!«
    »Na großartig!«, sagte ich, holte mir aus dem Kühlschrank ein Bier und sah zusammen mit dem Knirps zu, wie der Riese meine feine, kleine 2-ZKB-Wohnung in Stücke schlug.

14  DAS ENDE DER WELT
DER WALD
    Der Herbst ist vorüber. Eines Morgens wache ich auf, sehe zum Himmel auf – und es ist nicht mehr Herbst. Die klaren Schatten der Herbstwolken fehlen, stattdessen zeigt sich über dem nördlichen Bergkamm eine dicke, dunkle Wolke, wie ein Bote des Unglücks. Der Herbst ist der Stadt ein freundlicher, angenehmer Gast gewesen, doch sein Aufenthalt war kurz und sein Aufbruch überstürzt.
    Dem Herbstende folgt ein Provisorium, nicht Herbst noch Winter, ein seltsam stilles Vakuum. Das goldene Vlies der Tiere verliert langsam seinen Glanz, wird weißer und weißer, als würde es ausgebleicht, und kündet den Menschen den nahen Winter an. Alle Lebewesen, alle Naturerscheinungen bereiten sich auf die eisige Jahreszeit vor: Man zieht den Kopf ein und erstarrt. Wie eine unsichtbare Membran legt sich die Vorahnung des Winters über die Straßen. Das Heulen des Windes, das Rauschen der Bäume und Sträucher, die Stille der Nacht, sogar die Schritte der Menschen – alles klingt schwer und kalt, alles scheint auf den Winter anzuspielen, selbst das im Herbst noch so sanft und beruhigend gewesene Plätschern an der Sandbank kann mich jetzt nicht mehr trösten. Alles zieht sich in einen Panzer zurück, um die eigene Haut zu retten, und legt sich diese eigenartige Finalität zu. Für alle ist der Winter etwas ganz

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