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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Besonderes, er ist anders als jede andere Jahreszeit. Selbst die Rufe der Vögel werden kurz und spitz, nur ihr gelegentliches Flügelschlagen bringt Bewegung in das kalte Vakuum.
    »Dieses Jahr bekommen wir allem Anschein nach einen außerordentlich kalten Winter«, sagt der alte Oberst. »Man sieht es an der Form der Wolken. Schau mal, da drüben.«
    Der Alte geht mit mir zum Fenster und zeigt auf die dicke, dunkle Wolke über dem nördlichen Bergkamm. »Jedes Jahr um diese Zeit zeigen sich über dem Kamm Vorboten der Winterwolken. Spähtrupps sozusagen. Anhand der Form dieser Wolken lässt sich die zu erwartende Kälte des Winters vorhersagen. Glatte, flache Wolken deuten auf mildes Wetter. Je dicker sie sind, desto strenger wird der Winter. Und am allerschlimmsten sind Wolken, die wie ein Vogel mit ausgebreiteten Schwingen aussehen. Das bedeutet, dass alles zufrieren wird. Eine Wolke wie genau die da.«
    Ich kneife meine Augen zu Schlitzen zusammen und sehe mir den Himmel über dem nördlichen Bergkamm an. Meine Sicht ist zwar verschwommen, doch die Wolke, von der der Alte gesprochen hat, kann ich erkennen. Sie zieht sich den ganzen Kamm entlang, von rechts nach links, von einem Ende zum anderen, ihr Zentrum ragt dick und hoch empor wie ein Berg, und sie hat zweifellos die Form eines Vogels mit ausgebreiteten Schwingen, wie der Alte gesagt hat. Ein riesiger, aschgrauer Unglücksvogel, der über den Kamm her auf uns zufliegt.
    »So ein eiskalter Winter kommt nur alle fünfzig bis sechzig Jahre vor. Apropos, du hast gar keinen Mantel, oder?«
    »Nein, hab ich nicht«, sage ich. Ich besitze bloß das dünne Baumwolljäckchen, das mir zugeteilt wurde, als ich in die Stadt kam.
    Der Oberst öffnet einen Schrank, zieht einen marineblauen Militärmantel heraus und gibt ihn mir. Er ist schwer wie Stein, und die raue Schafswolle kratzt und sticht auf der Haut.
    »Ein bisschen schwer, aber besser als nichts. Ich hab ihn vor kurzem für dich besorgt. Hoffentlich passt er.«
    Ich probiere ihn an. Er ist in den Schultern etwas zu weit und so schwer, dass ich wohl werde dahertaumeln müssen, wenn ich mich nicht schleunigst daran gewöhne. Doch im Großen und Ganzen passt er. Außerdem ist er besser als nichts, um mit den Worten des Alten zu sprechen. Ich bedanke mich.
    »Sitzt du immer noch an der Karte?«, fragt der Oberst.
    »Ja«, sage ich. »Es gibt noch ein paar weiße Flecken, und ich will sie so schnell wie möglich fertig bekommen. Wo ich schon so viel Mühe hineingesteckt habe.«
    »Ich habe nichts dagegen, dass du die Karte zeichnest. Es ist deine Sache, und du störst schließlich niemanden damit. Aber ich gebe dir den guten Rat, hör auf, so weite Ausflüge zu machen, wenn der Winter da ist. Dann darfst du die bewohnte Gegend auf keinen Fall mehr verlassen. Man kann nicht vorsichtig genug sein, besonders in einer so grimmigen Kälte, wie sie dieses Jahr zu erwarten ist. Ausgesprochen groß ist die Stadt zwar nicht, aber im Winter birgt sie viele Gefahren, von denen du keine Ahnung hast. Warte mit der Fertigstellung der Karte, bis es Frühling wird!«
    »Mach ich«, sage ich, »aber wann fängt der Winter denn nun an?«
    »Wenn der Schnee kommt. Der Winter ist da, sobald die ersten Schneeflocken fallen. Und er ist zu Ende, sobald der Schnee auf der Sandbank geschmolzen ist.«
    Wir betrachten weiter die Wolke über dem nördlichen Bergkamm und trinken unseren Morgenkaffee.
    »Noch etwas ganz Wichtiges«, sagt der Alte. »Halte dich unter allen Umständen von der Mauer fern, sobald der Winter da ist. Und auch vom Wald. Im Winter sind sie überaus mächtig.«
    »Was ist denn eigentlich los im Wald?«
    »Nichts«, antwortet der Alte nach einer kleinen Pause. »Rein gar nichts. Zumindest nichts, was für dich oder mich von Bedeutung wäre. Für uns ist der Wald vollkommen unwichtig.«
    »Lebt dort niemand?«
    Der Alte macht den Ofen auf, entfernt den Staub und legt ein paar dünne Scheite Brennholz und etwas Kohle ein.
    »Sieht ganz so aus, als müssten wir ab heute Abend heizen«, sagt er. »Die Kohle hier und das Holz stammen aus dem Wald. Außerdem wachsen dort Pilze, Tee und andere Nahrungsmittel. In dieser Hinsicht brauchen wir den Wald. Aber das ist auch schon alles. Sonst gibt es dort nichts.«
    »Aber das heißt doch, dass es Leute geben muss, die davon leben, im Wald nach Kohle zu graben, Brennholz zu sammeln oder Pilze zu suchen, nicht wahr?«
    »Ja, sicher. Es wohnen dort ein paar Menschen. Sie versorgen die

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