Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
wenn ich mich einmal verlaufe, werde ich nicht einmal mehr die Himmelsrichtungen bestimmen können. Es gibt keine Wege, nicht einmal Orientierungspunkte. Ich arbeite mich deshalb ganz vorsichtig weiter durch den Wald, die Mauer immer gerade noch im Augenwinkel, und achte darauf, diesen Abstand zu halten. Es ist nicht so einfach zu durchschauen, ob der Wald nun Freund ist oder Feind – die beruhigende, angenehme Wirkung, die er auf mich ausübt, kann schließlich eine Täuschung sein, um mich tiefer hineinzulocken. Wie auch immer – für diese Stadt bin ich eine schwache Existenz, noch nicht gefestigt, wie der Alte gesagt hat. Ich kann nicht vorsichtig genug sein.
Vielleicht liegt es daran, dass ich nicht wirklich bis ins Waldesinnere vorgedrungen bin, aber ich kann keine einzige Spur von den Menschen entdecken, die hier leben sollen, nirgendwo. Keine Fußspuren, auch nicht die geringsten Anzeichen, dass irgendetwas von Menschenhand berührt worden wäre. Halb habe ich mich davor gefürchtet, halb habe ich gehofft, ihnen zu begegnen, aber nun bin ich schon tagelang unterwegs, und mir ist nicht der geringste Hinweis auf ihre Existenz untergekommen. Ich komme zu dem Schluss, dass sie tiefer im Waldesinnern leben müssen. Oder dass sie mir geschickt aus dem Weg gehen.
Am dritten oder vierten Tag meiner Erkundungen, gerade dort, wo die östliche Mauer eine scharfe Biegung nach Süden macht, entdecke ich eine kleine Lichtung direkt an der Mauer. Sie liegt genau in der Biegung, von der Mauer geschützt, und breitet sich von dort fächerförmig aus. Der dichte Wald lässt dieses winzige Fleckchen Erde vollkommen unberührt, und auch von der sonst so rauen Spannung in unmittelbarer Nähe der Mauer ist hier eigenartigerweise nichts zu spüren. Alles ist friedlich und ruhig, wie im Waldesinneren. Ein samtweicher Teppich aus kurzem, saftigem Gras bedeckt die Erde, über mir spannt sich ein ungewöhnlich geformtes Stück Himmel, wie abgesetzt. In der einen Ecke der Lichtung muss einmal ein Gebäude gestanden haben, denn es sind noch die Reste eines Steinfundamentes zu sehen. Ich schaue mir diese Überreste genauer an und erkenne, dass es ein regelrechtes Haus gewesen sein muss, ein geräumiges sogar. Jedenfalls keine provisorisch hochgezogene Hütte. Ich kann drei abgetrennte Zimmer, Küche, Bad und die Eingangshalle erkennen und mir direkt vorstellen, wie das Haus ausgesehen haben muss. Aber ich habe keine Ahnung, wer hier in der hintersten Ecke des Waldes zu welchem Zweck ein Haus gebaut und aus welchem Grunde er es dann wieder verlassen haben soll.
Hinter der Küche ist ein Steinbrunnen, doch er ist mit Erde aufgefüllt worden und von Gras überwuchert. Offensichtlich hat der, der dies alles verließ, auch den Brunnen zugeschüttet. Wer weiß, wozu.
Ich setze mich hin, lehne mich an die verwitterte Brunnenmauer und sehe zum Himmel auf. Der Wind weht aus den nördlichen Bergen und fährt in die Zweige der Bäume, dass sie sich wiegen und rauschen. Dicke, regenschwere Wolken ziehen langsam vorüber. Ich schlage den Jackenkragen hoch und sehe den Wolken nach.
Hinter der Ruine erhebt sich die Mauer. Es ist das erste Mal, dass ich im Wald so nah an sie herankomme. Jetzt sieht sie tatsächlich lebendig aus, beinahe, als würde sie atmen. Wie ich so dasitze, dem Wind lausche und die Mauer betrachte, in einer Lichtung mitten im Ostwald, an einen alten Brunnen gelehnt, kann ich den Worten des Wächters glauben. Wenn es überhaupt etwas Perfektes geben sollte auf dieser Welt, dann ist es die Mauer. Sie scheint schon seit ewigen Zeiten da zu sein, wie die Wolken, die am Himmel ziehen, wie der Regen, der einen Fluss in die Erde gräbt.
Die Mauer ist zu gewaltig, um sie auf ein Blatt bannen zu können, ihr Atmen zu heftig, ihre gebogene Linie zu anmutig. Jedes Mal, wenn ich den Verlauf der Mauer in mein Heft zeichnen will, überfällt mich ein grenzenloses Gefühl der Ohnmacht. Ihr Aussehen ändert sich je nach Blickwinkel unglaublich, was es mir beinahe unmöglich macht, sie genau zu fassen.
Ich schließe die Augen und versuche, ein bisschen zu schlafen. Ich höre immer noch das Heulen des schneidenden Windes, aber die Bäume und die Mauer schützen mich vor seiner Kälte.Vor dem Einschlafen denke ich an meinen Schatten. Ich muss ihm jetzt bald die Karte geben. Natürlich ist sie im Detail noch ungenau, die Stelle, wo der Wald liegt, ist beinahe weiß geblieben, aber der Winter steht vor der Tür, und wenn er erst da ist, wird
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