Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
Stadt mit Kohle, Brennholz, Pilzen und so weiter, wir geben ihnen dafür Getreide und Kleidung. Der Austausch findet einmal pro Woche an einem festgesetzten Ort durch autorisierte Personen statt. Aber darüber hinaus pflegen wir keinen Kontakt. Sie kommen nicht in die Stadt, und wir gehen nicht in den Wald. Wir und sie – das sind grundverschiedene Menschenschläge.«
»Inwiefern verschieden?«
»In jeder Hinsicht«, sagt der Alte. »Verschieden in jedem erdenklichen Sinne. Aber pass auf, die wollen bloß, dass man sich für sie interessiert. Sie sind gefährlich, warten nur darauf, schlechten Einfluss auf dich ausüben zu können. Du bist nämlich jemand, der – wie soll ich sagen – noch nicht gefestigt ist. Und solange nicht ordnungsgemäß gefestigt ist, was gefestigt werden muss, solltest du dich nicht unnötig in Gefahr begeben. Der Wald ist der Wald. In deine Karte brauchst du also einfach nur ›Wald‹ einzutragen.Verstanden?«
»Verstanden.«
»Aber es gibt nichts Gefährlicheres als die Mauer im Winter. Im Winter hält die Mauer die Stadt noch fester zusammen als sonst. Uns wird deutlich und unmissverständlich bewusst, dass wir hinter ihr eingeschlossen sind. Ihr entgeht nichts von dem, was hier passiert, absolut nichts. Deshalb solltest du dich in keinster Weise mit ihr anlegen, nicht einmal nähern solltest du dich ihr. Ich kann es nicht oft genug wiederholen: Du bist noch nicht gefestigt. Du bist unschlüssig, hast deine Zweifel und Widersprüche, du bereust und zeigst Schwäche. Der Winter wird für dich die gefährlichste Jahreszeit überhaupt.«
Aber ich muss etwas über den Wald herausbekommen, bevor der Winter anbricht, und wenn es noch so wenig ist. Es ist langsam an der Zeit, dem Schatten die Karte zu liefern, und er hat verlangt, dass ich mich um den Wald kümmere. Nur noch der Wald, dann steht die Karte.
Langsam, aber sicher breitet die Wolke über dem Bergkamm ihre Schwingen aus und kommt auf die Stadt zu, die Sonnenstrahlen haben längst ihren goldenen Glanz verloren. Der Himmel ist trübe und düster, als hätte man ihn mit feiner Asche bestäubt, in der sich das schwache Licht verfängt. Wie geschaffen allerdings für meine verwundeten Augen, diese Jahreszeit. Der Himmel vermag nicht mehr aufzubrechen, nicht einmal ein Sturm würde diese Wolke mehr vertreiben können.
Ich nehme den Weg am Fluss entlang in den Wald hinein und versuche, möglichst nahe bei der Mauer zu bleiben, um mich nicht zu verlaufen. So kann ich den Wald erforschen und gleichzeitig den Verlauf der Mauer in die Karte eintragen.
Aber das ist kein Kinderspiel. Unterwegs tun sich Gräben auf, so tief, dass man denkt, die Erde sei eingebrochen, oder ich gerate in einen riesigen Brombeerstrauch, der hoch über mich hinauswuchert. Es gibt Sumpfgebiete, die mir den Weg abschneiden, und überall haben Riesenspinnen ihre Netze gesponnen; sie kleben mir im Gesicht, am Kopf und an den Händen. Ab und zu höre ich im Gebüsch ein Rascheln. Die Äste riesiger Bäume decken alles über mir zu und tauchen den Wald in eine Dunkelheit, so tief wie auf dem Meeresgrund. Wie ein unappetitlicher Hautausschlag haben kleine und große Pilze in allen erdenklichen Farben die Stämme und Wurzeln der Bäume befallen.
Doch seltsamerweise – sobald ich mich einmal von der Mauer entferne und ins Waldesinnere vordringe, eröffnet sich mir eine Welt des Friedens und der Ruhe. Nichts als urwüchsige Natur und Leben – das ruhige Atmen der Erde heitert mich auf. Statt der Gefahr, vor der der Oberst mich so eindringlich gewarnt hat, sehe ich die Bäume, die Gräser, die kleinen Tiere – spüre ich den endlosen Kreislauf des Lebens und so etwas wie Bestimmung, unverrückbar in jedem Stein und jedem kleinsten Stückchen Erde.
Dieser Eindruck wird umso stärker, je weiter ich mich von der Mauer entferne und in das Waldesinnere vordringe. Die Schatten des Unglücks verfliegen, die Formen der Baumstämme und die Farben der Blätter werden irgendwie friedlicher, die Rufe der Vögel klingen wieder angenehm. Auch den kleinen Lichtungen, die sich hin und wieder auftun, fehlt die Spannung und die Finsternis, die in Mauernähe zu spüren ist. Ich habe keine Ahnung, was diesen eklatanten Gegensatz bewirken könnte. Vielleicht greifen die Kräfte der Mauer die Waldatmosphäre an, vielleicht ist es auch nur eine ökologische Frage.
Aber so angenehm es ist, im Wald umherzulaufen, ganz von der Mauer entfernen darf ich mich nicht. Der Wald ist tief, und
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