Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
es mir unmöglich sein, meine Erkundungen in irgendeiner Weise fortzusetzen. Ich habe die ungefähre Form der Stadt, Lage und Aussehen dessen, was sich darin befindet, in mein Heft eingezeichnet und außerdem alles, was ich darüber herausfinden konnte, notiert.
Ich bin mir nicht sicher, ob der Wächter mich zu dem Schatten vorlassen wird, aber schließlich hat er versprochen, dass ich ihn besuchen darf, sobald die Tage kürzer geworden sind und die Energie des Schattens nachgelassen hat. Jetzt, kurz vor Winteranbruch, scheinen diese Bedingungen erfüllt.
Dann denke ich mit geschlossenen Augen an die Bibliothekarin. Aber je mehr ich an sie denke, desto stärker wird das Gefühl von Verlust. Ich kann nicht ergründen, wie es entsteht und durch was es hervorgerufen wird, aber dass es ein reines Gefühl von Verlust ist, weiß ich genau. Mir ist, als würde mir ständig irgendetwas von ihr abhanden kommen, unaufhörlich.
Ich sehe sie jeden Tag, aber auch diese Tatsache vermag das immer größer werdende Loch in mir nicht zu füllen. Wenn ich in einem Zimmer der Bibliothek alte Träume lese, ist sie ständig an meiner Seite. Wir essen zusammen zu Abend, trinken etwas Warmes, und nachher bringe ich sie nach Hause. Unterwegs reden wir über alles Mögliche. Sie erzählt mir von ihrem Vater, von ihren beiden Schwestern, von ihrem Alltag.
Doch jedes Mal, wenn wir an ihrem Haus angekommen sind und uns verabschiedet haben, fühle ich den Verlust noch stärker als zuvor. Ich kann mit diesem unsinnigen Gefühl absolut nichts anfangen. Der Brunnen ist zu tief und zu dunkel, alle Erde der Welt könnte ihn nicht füllen.
Ich vermute, das Gefühl hängt mit dem Verlust meines Gedächtnisses zusammen. Meine Erinnerung fragt nach irgendetwas von ihr, auf das ich aber keine Antwort finden kann, und dieses Missverhältnis lässt in meiner Seele eine schwer ausfüllbare Leere zurück. Aber das ist ein Problem, mit dem ich mich jetzt nicht belasten kann. Ich selbst bin viel zu schwach und zu unsicher.
Ich wische die vielen komplizierten Gedanken in meinem Kopf beiseite und versinke in Schlaf.
Als ich erwache, ist es erstaunlich kalt. Ich zittere am ganzen Leibe und ziehe mir die Jacke fester zu. Es wird dunkel. Ich stehe auf und fege mir das trockene Gras von der Kleidung – da streift die erste Schneeflocke meine Wange. Als ich zum Himmel aufblicke, hängt die Wolke viel tiefer als zuvor, dunkler und unglückseliger. Dicke, behäbige Schneeflocken wiegen sich im Wind und tanzen langsam zur Erde herab. Der Winter ist da.
Bevor ich aufbreche, sehe ich mir die Mauer noch einmal an. Die vor dem düsteren Himmel tanzenden Schneeflocken lassen sie noch perfekter wirken als sonst. Als ich zur Mauer aufblicke, habe ich das Gefühl, sie sieht mit tausend Augen auf mich herab. Wie ein eben erwachtes Urlebewesen baut sie sich vor mir auf. Sie scheint mir zuzurufen: Warum bist du hier? Was suchst du?
Aber ich kann ihre Fragen nicht beantworten. Der kurze Schlaf in der Kälte hat meinem Körper alle Wärme geraubt. Mein Kopf fühlt sich an, als wäre er mit irgendeiner zähen Masse gefüllt. Als gehörte er gar nicht zu mir, als säße er auf fremden Schultern. Alles ist schwer und vage.
Ich bemühe mich, beim Durchqueren des Waldes möglichst nicht zur Mauer zu sehen, und beeile mich, zum Osttor zu kommen. Der Weg ist lang, und die Dunkelheit wird dichter und dichter. Das empfindliche Gleichgewicht meines Körpers ist zusammengebrochen. Mehrmals muss ich unterwegs stehen bleiben, um Luft zu holen, um genügend Kraft zum Weitergehen zu sammeln und meine wie ausgefransten, bloßliegenden Nervenstränge wieder zusammenzudrehen. Außerdem habe ich das Gefühl, dass irgendetwas schwer auf mir lastet, etwas, das sich in der Abenddämmerung verborgen hält. Ich meine, den Ton des Horns bis in den Wald hinein zu hören – aber er geht einfach durch mich hindurch und berührt mich nicht.
Als ich endlich den Wald hinter mir gelassen habe und am Flussufer ankomme, ist die Erde schon in schwarze Dunkelheit gehüllt. Kein Mond, keine Sterne, nur der schneeige Wind und das kalte Rauschen des Wassers beherrschen die Umgebung. Hinter mir erhebt sich der finstere Wald, die Bäume schwanken im Wind. Ich kann mich nicht entsinnen, wie viel Zeit ich danach gebraucht habe, um die Bibliothek zu erreichen. Das Einzige, was ich weiß, ist, dass ich unendlich lange am Fluss entlanglief, immer und immer weiter. In der Dunkelheit schaukelten die Weidenzweige,
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