Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
ich mich, wie der Arzt geraten hatte, aufs Bett und las Turgenjews Rudin. Lieber hätte ich die Frühlingswogen gelesen, aber das Buch im Schutthaufen meiner Wohnung herauszusuchen, wäre einer Sisyphusarbeit gleichgekommen; außerdem waren die Frühlingswogen genau besehen keineswegs so viel besser als der Rudin.
Den Bauch verbunden, noch vor Sonnenuntergang mit einem alten Roman von Turgenjew auf dem Bett, war mir auf einmal alles egal. Was in den vergangenen drei Tagen passiert war, ich hatte mich nicht danach gedrängt. Es war auf mich zugekommen, ich war in die Sache verwickelt worden. Weiter nichts.
Ich ging in die Küche und räumte vorsichtig die sich in der Spüle türmenden Scherben zur Seite. Fast alle Flaschen waren hoffnungslos zersplittert; das Bodenstück einer Flasche Chivas Regal hatte das Desaster jedoch unbeschädigt überstanden und enthielt noch einen Rest Whiskey. Ich goss ihn in ein Glas und hielt es gegen das Licht; Splitter waren nicht zu sehen. Ich legte mich wieder aufs Bett, trank den lauwarmen Whiskey und las weiter in meinem Buch. Den Rudin hatte ich zuletzt als Student gelesen, vor fünfzehn Jahren. Jetzt, fünfzehn Jahre später und mit verbundenem Bauch, kam mir der Held sympathischer vor als früher. Allein kann der Mensch seine Fehler nicht beheben. Spätestens im 25. Lebensjahr hat sich sein Charakter fest herausgebildet, danach ist, soviel Mühe er sich auch geben mag, nichts Wesentliches mehr zu ändern. Die Frage ist, wie die Außenwelt auf diesen Charakter reagiert. Unterstützt von der berauschenden Wirkung des Whiskeys, sympathisierte ich mit Rudin. Dostojewskis Romanfiguren lassen mich fast alle kalt, aber Turgenjews Personen gefallen mir sofort. Mir kommen sogar die aus der Serie Polizeirevier 87 sympathisch vor. Wahrscheinlich, weil ich selbst eine Menge Fehler habe. Menschen neigen dazu, Menschen, die ebenso viele Fehler haben wie sie selbst, zu mögen. Dostojewskis Romanfiguren haben aber oft Fehler, die keine eigentlichen Fehler sind, sodass ich mich nicht hundertprozentig mit ihnen identifizieren kann. Bei Tolstoj sind diese Fehler oft zu groß angelegt und zu statisch.
Als ich das Taschenbuch ausgelesen hatte, warf ich es aufs Bücherregal und fahndete in der Spüle nach einem neuen Whiskey. Ganz unten hatte sich ein winziger Rest Jack Daniels Black Label gehalten, den goss ich in mein Glas, sah zu, dass ich wieder aufs Bett kam, und nahm mir Stendhals Rot und Schwarz vor. Ich scheine ein Faible für altmodische Romane zu haben. Wer von den jungen Leuten liest heute schon noch Rot und Schwarz? Jedenfalls identifizierte ich mich beim Lesen mit Julien Sorel. Sorels Fehler standen schon mit fünfzehn fest, ein Punkt, der ihn mir noch sympathischer machte. Einer, dessen weiterer Lebensweg schon mit fünfzehn klar umrissen war, war wirklich zu bedauern. Er begab sich quasi selbst in ein ausbruchssicheres Gefängnis. Bewegte sich auf seinen Untergang zu, eingeschlossen in eine von einer Mauer umgebene Welt.
Etwas rührte mich an.
Die Mauer.
Diese Welt war von einer Mauer umgeben.
Ich klappte das Buch zu, kippte das letzte Schlückchen Jack Daniels und stellte mir eine ummauerte Welt vor. Die Mauer und das Tor fielen mir relativ leicht. Die Mauer war sehr hoch, und das Tor war mächtig. Und es war still. Und ich selbst war auch dort drinnen. Aber ich war mir meiner nur sehr verschwommen bewusst, um mich herum konnte ich nichts ausmachen. Die ganze Stadt stand mir klar bis in die Einzelheiten vor Augen, aber um mich herum war alles verschwommen. Und von jenseits dieses undurchdringlichen Schleiers rief mich jemand.
Ich schüttelte den Kopf, um das Bild zu vertreiben. Ich war müde, erschöpft. Die Mauer, dachte ich, symbolisierte gewiss mein begrenztes Leben. Die Stille repräsentierte den weggenommenen Ton. Der Nebel um mich herum bedeutete, dass meine Phantasie sich in einer existenziellen Krise befand. Und die Person, die mich rief, war bestimmt das rosafarbene Mädchen.
Nach dieser billigen Analyse meiner kurzen Träumerei schlug ich das Buch wieder auf. Aber ich konnte mich nicht mehr darauf konzentrieren. Mein Leben hat keinen Sinn, dachte ich, es bedeutet nichts, null. Was hatte ich bisher produziert? Nichts hatte ich produziert. Hatte ich jemanden glücklich gemacht? Ich hatte niemanden glücklich gemacht. Besaß ich etwas? Ich besaß nichts. Keine Familie, keine Freunde, keine Tür. Ich bekam nicht mal einen hoch. Und war im Begriff, meinen Job zu
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