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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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verlieren.
    Auch mein letztes Lebensziel, Friede und Freude mit Cello und Griechisch, war höchst gefährdet. Wenn ich jetzt meine Arbeit verlor, bliebe mir finanziell nicht der geringste Spielraum, das in die Tat umzusetzen, und wenn das System mich bis ans Ende der Welt verfolgte, würde ich kaum Zeit haben, die unregelmäßigen Verben des Griechischen zu memorieren.
    Ich schloss die Augen, tat einen Seufzer von der unergründlichen Tiefe eines Inkabrunnens und nahm wieder meine Lektüre auf. Was verloren war, war verloren. Durch Grübeln kam es nicht zurück.
    Ehe ich mich versah, hatte die Dämmerung eingesetzt, war ich von turgenjew-stendhalscher Finsternis umgeben. Die Wunde schmerzte nicht mehr so sehr, vielleicht, weil ich ruhig auf einer Seite gelegen hatte. Ab und zu zog ein dumpfer, diffuser Schmerz von der Wunde in die Seiten, als schlüge in der Ferne eine Trommel. Wenn er vorüber war, konnte ich die Verletzung vergessen. Die Uhr zeigte zwanzig nach sieben, aber ich hatte nach wie vor keinen Appetit. Um fünf in der Frühe hatte ich ein labbriges Sandwich mit Milch heruntergespült, später in der Küche den Kartoffelsalat verspeist. Danach hatte ich keinen Bissen mehr zu mir genommen, aber der bloße Gedanke an Essen ließ meinen Magen rebellieren. Ich war erschöpft, übernächtigt, man hatte mir den Bauch aufgeschlitzt, und die Wohnung sah aus, als wäre sie von einem Bataillon Zwerge in die Luft gesprengt worden. Für Appetit war da kein Platz.
    Vor Jahren hatte ich einmal eine Science-Fiction-Story gelesen, in der die Welt unter Schutt und Abfall versank und sich in eine Ruine verwandelte; genauso sah es in meiner Wohnung aus. Der ganze Boden war mit nutzlosem Zeug bedeckt – ein zerfetzter dreiteiliger Anzug, ein demoliertes Videogerät und ein ebensolcher Fernseher, eine zerbrochene Vase, eine Stehlampe mit gebrochenem Genick, zertrampelte Schallplatten, geschmolzene Tomatensoße, herausgerissene Boxenkabel … Über die überall verstreuten Hemden und die Unterwäsche war man mit Straßenschuhen gelatscht, sie hatten Tinten- und Traubenflecken, fast nichts war mehr zu gebrauchen. Vor drei Tagen hatte ich Trauben gegessen und den Teller auf dem Nachttischchen stehen lassen, der Riese hatte ihn heruntergefegt und die Trauben zertreten. Die aus den Regalen gerissenen Bücher hatten sich mit dem Schmutzwasser aus der Vase voll gesogen. Die Gladiolen waren auf meinem blassbeigen Kaschmirpullover gelandet, ein Gebinde für einen gefallenen Soldaten. Einen Ärmel zierte ein golfballgroßer Tintenfleck, Pelikan Königsblau.
    Alles, alles hatte sich in Müll verwandelt. In einen Berg von Müll, der immer nur Müll sein würde. Mikroorganismen wurden zu Erdöl, Holz zu Kohle. Aber der Müll in meiner Wohnung war reiner Müll. Zu was sollte ein demoliertes Videogerät werden?
    Ich ging noch einmal in die Küche und stapelte die Whiskeyscherben in der Spüle um. Aber es war nichts mehr da, kein Tropfen. Der Whiskey war nicht durch meine Kehle geflossen, sondern durch das Abflussrohr ins unterirdische Nichts geströmt, war wie Orpheus hinabgestiegen in die Unterwelt, in der die Schwärzlinge herrschten.
    Beim Umstapeln schnitt mir eine Scherbe in die Kuppe des rechten Mittelfingers. Eine Weile schaute ich zu, wie das Blut aus dem Finger auf die Etiketten der Whiskeyflaschen tropfte. Wer richtig verletzt ist, dem macht eine kleine Wunde nicht viel aus. An einem kleinen Schnitt im Finger ist noch keiner gestorben.
    Ich ließ das Blut eine Zeit lang tropfen, wischte dann aber, als es gar nicht aufhören wollte, den Finger mit einem Papiertuch ab und klebte ein Pflaster auf.
    Wie die Hülsen abgefeuerter Geschosse lagen sieben, acht Dosen Bier auf dem Küchenboden. Ich hob sie auf, sie fühlten sich lau an. Aber laues Bier war immerhin besser als keins. In jeder Hand eine Dose, ging ich ins Schlafzimmer zurück, las weiter in Rot und Schwarz und schlürfte dabei Bier. Mit dem Alkohol wollte ich den Stress, der sich in den vergangenen drei Tagen angestaut hatte, abbauen – und dann schlafen, nichts als schlafen. Bevor die Probleme des nächsten Tages auf mich einstürzten – und das würden sie wohl zweifellos –, wollte ich so lange schlafen, wie die Erde brauchte, um sich wie Michael Jackson einmal um sich selbst zu drehen. Und dann die neuen Probleme mit frischer Verzweiflung angehen.
    Der Sandmann kam um neun. Auch meine kleine Wohnung, die so desolat war wie die Rückseite des Mondes, ließ er nicht aus.

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