Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
deinem Körper. Du wirst sehen, noch einmal schlafen, und dann geht’s dir viel besser. Schlaf jetzt ruhig ein. Ich bleibe hier, bis du aufwachst.«
Als ich wach werde, ist es draußen schon ganz dunkel. Vom Wind gepeitscht prasselt der Regen an die Scheibe. Der Alte sitzt an meinem Bett.
»Na, wie geht’s? Besser?«
»Viel besser als eben jedenfalls«, sage ich. »Wie viel Uhr ist es?«
»Acht Uhr abends.«
Ich versuche aufzustehen, bin aber noch ziemlich wackelig auf den Beinen.
»Wo willst du hin?«, fragt der Alte.
»In die Bibliothek. Ich muss Träume lesen«, sage ich.
»Bist du verrückt? In diesem Zustand kommst du keine fünf Meter weit.«
»Aber ich kann doch nicht einfach …«
Der Alte schüttelt den Kopf. »Die alten Träume können warten. Außerdem wissen der Wächter und die Kleine, dass du dich erst einmal nicht vom Fleck rühren kannst. Die Bibliothek wird sowieso geschlossen sein.«
Der Alte seufzt, geht zum Ofen, gießt sich Tee ein und kommt zurück. Windböen wuchten gegen das Fenster.
»Schätze, du hast dich in die Kleine verliebt«, sagt der Alte. »Konnte nicht umhin, mit anzuhören, was du phantasiert hast, saß ja die ganze Zeit an deinem Bett. Im Fieberwahn redet man halt. Muss man sich nicht für schämen. Alle jungen Leute verlieben sich. Hab ich Recht?«
Ich nicke und sage nichts.
»Nettes Mädchen, die Kleine. Sie hat sich außerdem große Sorgen um dich gemacht«, sagt der Alte und schlürft seinen Tee. »Aber dass du dich in sie verliebst, ist unter den gegebenen Umständen unpassend. Bedaure zwar, dir das sagen zu müssen, aber ich habe dir schließlich einiges über die Gegend hier beizubringen.«
»Wieso unpassend?«
»Weil sie deine Gefühle nicht erwidern kann. Niemand kann dafür. Es liegt nicht an dir und auch nicht an ihr. Man könnte höchstens sagen, es ist der Lauf der Welt, und am Lauf der Welt kann man nicht drehen, ebenso wenig wie man den Lauf des Flusses umdrehen kann.«
Ich setze mich auf und reibe mir mit beiden Händen die Wangen. Mein Gesicht scheint eingeschrumpft zu sein.
»Sie meinen die Seele, nicht wahr?«
Der Alte nickt.
»Sie meinen, ich habe eine Seele, sie aber nicht, und deshalb wird nichts draus, wie sehr ich sie auch lieben mag – ist es das?«
»Ja, genau«, sagt der Alte. »Du kannst dabei nur verlieren. Es ist, wie du gesagt hast: Sie hat keine Seele. Ich auch nicht. Keiner hier.«
»Ja, aber Sie sind doch so nett zu mir. Sie kümmern sich um mich, wachen Tag und Nacht an meinem Bett. Ist das denn nicht auch Ausdruck Ihrer Seele?«
»Nein, das ist etwas anderes. Freundlichkeit unterscheidet sich von der Seele, ist eine eigenständige Funktion, genauer gesagt, eine oberflächliche Funktion, bloße Angewohnheit. Die Seele ist etwas ganz anderes. Etwas viel Tieferes, Stärkeres. Und auch viel widersprüchlicher.«
Ich schließe die Augen und suche meine verstreuten Gedanken zusammen.
»Was ich glaube, ist«, sage ich, »dass die Menschen ihre Seele verlieren, weil ihr Schatten stirbt. Ist es nicht so?«
»Doch, ganz richtig.«
»Und sie kann ihre Seele nicht zurückbekommen, weil ihr Schatten schon tot ist, nicht wahr?«
Der Alte nickt. »Ich bin zum Stadthaus gegangen und hab mir die Akte über ihren Schatten angesehen. Es besteht kein Zweifel. Ihr Schatten ist gestorben, als die Kleine siebzehn war; er wurde ordnungsgemäß im Apfelwäldchen begraben. Der Eintrag über das Begräbnis ist da. Wenn du Genaueres wissen willst, frag sie selbst. Was du aus ihrem Mund erfährst, wird dich sowieso eher überzeugen als das, was ich dir sage. Nur noch eins vielleicht: Die Kleine wurde von ihrem Schatten getrennt, bevor sie denken konnte. Das heißt, sie weiß wahrscheinlich nicht einmal, dass sie früher eine Seele hatte. Sie ist also anders als ein Mensch wie ich, der seinen Schatten im Alter und aus freiem Willen verlassen hat. Ich kann immerhin nachfühlen, was in dir vorgeht – die Kleine kann das nicht.«
»Aber an ihre Mutter kann sie sich ganz genau erinnern. Nach dem, was sie erzählt, hat ihre Mutter ihre Seele behalten, auch nachdem man ihren Schatten hatte verenden lassen. Warum das so war, weiß ich nicht, aber es könnte doch irgendwie von Nutzen sein. Sie hat vielleicht einiges von der Seele ihrer Mutter mitbekommen.«
Der Alte schwenkt ein paar Mal seine Tasse mit dem kalt gewordenen Tee und trinkt sie dann aus.
»Mach dir nichts vor!«, sagt er. »Die Mauer übersieht kein Stückchen Seele! Selbst wenn
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