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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Ich schmiss das dreiviertel zu Ende gelesene Rot und Schwarz auf den Boden, löschte die Nachttischlampe, die das Massaker heil überstanden hatte, rollte mich zusammen und schlief ein. Ein kleines Kind in einem desolaten Zimmer. Bis es an der Zeit war, würde niemand meinen Schlaf stören können. Ich war der kleine Prinz Verzweiflung, gewandet in Probleme. Um mich wachzuküssen, musste schon ein Frosch von der Größe eines VW-Golfs daherkommen.

    Wider Erwarten dauerte mein Schlaf jedoch nur zwei Stunden. Um dreiundzwanzig Uhr kam das Mädchen im rosafarbenen Kostüm und rüttelte mich wach. Offenbar bot man meinen Schlaf auf dem Markt feil, und zwar zu Schleuderpreisen. Und alle und jeder kam, schön der Reihe nach, und rüttelte, so wie man mit ein paar Tritten die Reifen eines Gebrauchtwagens prüft. Wieso nahm man sich das heraus? Schließlich war ich kein Gebrauchtwagen.
    »Lass mich in Ruhe«, sagte ich.
    »Aufstehen! Bitte, steh auf!«, sagte das Mädchen.
    »Lass mich in Ruhe«, wiederholte ich.
    »Zum Schlafen ist jetzt keine Zeit«, sagte sie und knuffte mich in die Seite. Ein gewaltiger Schmerz durchzuckte mich, als hätte man den Deckel zur Hölle angehoben.
    »Bitte«, sagte das Mädchen. »Wenn wir nichts unternehmen, geht die Welt unter.«

16  DAS ENDE DER WELT
DIE ANKUNFT DES WINTERS
    Als ich aufwache, liege ich im Bett. Es riecht vertraut. Es ist mein Bett, in meinem Zimmer. Und doch kommt mir alles ein wenig anders vor als zuvor. Das Zimmer wirkt wie eine Landschaft, die in meinen Erinnerungen wiedergeboren wird. Die Flecken an der Decke, die Risse im Wandputz, alles.
    Ich sehe aus dem Fenster. Es regnet. Eisklarer Winterregen fällt auf die Erde. Ich höre ihn aufs Dach prasseln. Doch mein Sinn für Entfernung ist gestört. Es klingt, als läge das Dach direkt an meiner Ohrmuschel und zugleich kilometerweit weg.
    Am Fenster sehe ich den Oberst. Der Alte sitzt auf einem Stuhl, den er ans Fenster gestellt hat, und sieht dem Regen zu – wie immer in strammer Haltung, ohne die kleinste Bewegung. Ich begreife nicht, warum er so angestrengt den Regen betrachtet. Regen ist Regen. Regen prasselt auf Dächer, macht die Erde nass und rinnt in den Fluss – weiter nichts.
    Ich versuche, den Arm zu heben, um mit der Hand meine Stirn zu befühlen, aber es tut sich nichts. Alles ist schrecklich schwer. Das will ich dem Oberst sagen, aber meine Stimme versagt auch. Ich bin nicht einmal imstande, Luft aus meinen Lungen zu pressen.Von den Haar- bis zu den Zehenspitzen scheinen mir sämtliche Körperfunktionen abhanden gekommen zu sein. Das Einzige, wozu ich in der Lage bin, ist, die Augen aufzuhalten und das Fenster, den Regen und den Alten zu betrachten. Ich kann mich nicht entsinnen, was in aller Welt mich derart mitgenommen haben könnte. Als ich versuche, mich zu erinnern, schmerzt mein Kopf, als würde er gespalten.
    »Winter«, sagt der Alte und klopft mit dem Finger an die Scheibe. »Der Winter ist da. Jetzt hast du begriffen, wie gefährlich er ist, was?«
    Ich nicke, ganz vorsichtig.
    Genau – die Wintermauer, sie hat mir diese Schmerzen zugefügt. Und dann – bin ich durch den Wald gelaufen, habe die Bibliothek erreicht. Plötzlich erinnere ich mich an das Gefühl von ihrem Haar auf meiner Wange.
    »Die Kleine von der Bibliothek hat dich hierher gebracht. Der Wächter hat ihr geholfen. Du hattest hohes Fieber und Alpträume. Und geschwitzt hast du – furchtbar! Ganze Eimer voll. Das war vorgestern.«
    »Vorgestern …«
    »Ja. Du hast zwei volle Tage geschlafen«, sagt der Alte. »Dachte schon, du wachst nie wieder auf. Bist anscheinend trotzdem im Wald gewesen, was?«
    »Verzeihen Sie«, sage ich.
    Der Alte nimmt den Topf vom Ofen und füllt dampfende Brühe in einen Teller. Dann setzt er mich auf und lehnt mich an die Rückwand des Bettes. Es knarrt wie müde Knochen.
    »Erst mal musst du jetzt essen«, sagt der Alte. »Nachdenken und dich entschuldigen kannst du später. Hast du Hunger?«
    Ich verneine. Das Luftholen ist schon anstrengend genug.
    »Aber du musst etwas essen. Komm, nur drei Löffel hiervon, das reicht. Drei Löffelchen und Schluss, ja?«
    Ich nicke.
    Die Suppe aus Heilkräutern ist so bitter, dass ich mich fast übergeben muss, aber irgendwie schaffe ich drei Löffel. Danach fühle ich mich vollkommen kraftlos.
    »So ist’s gut«, sagt der Alte und legt den Löffel auf den Teller zurück. »Die Suppe ist zwar ein bisschen bitter, aber sie zieht den kranken Schweiß aus

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