Harlekins Mond
Vielleicht haben wir uns ja alle verändert, dachte Rachel. Schließlich kann ich mich selbst nicht verlässlich beurteilen.
An diesem Tag würden die letzten Prüfungen ihrer ersten Solo-Klasse stattfinden. Bevor die harte Arbeit des Prüfens begann, würde sie eine Eröffnungsansprache halten. Ihr Lehrstoff entsprach dem der Klassen, die sie und Ursula seinerzeit gemeinsam besucht hatten. Die Schüler waren verdrießlicher, weniger aufgeregt, und ließen sich leichter ablenken, als Rachel es aus ihrem eigenen Unterricht in Erinnerung hatte. Sie hätte am liebsten die Hälfte von ihnen wegen Unaufmerksamkeit durchfallen lassen. Sie dürften eigentlich nicht bestehen, und das machte ihr Sorgen.
Shane hatte vorgehabt, heute vorbeizukommen und ihr zu helfen, er hatte jedoch angerufen, um ihr mitzuteilen, dass sich seine Ankunft verschieben werde. Eine Mannschaft hatte bei dem Versuch, rückwärts einen kleinen Hügel herunterzufahren, einen Pflanzer seitlich umstürzen lassen. Shane hatte versprochen, dass er oder Star rechtzeitig zurück sein würden, um ihr bei der Bekanntgabe der Noten zu helfen.
Rachel ließ den Blick über die Wiesen schweifen, um sich zu vergewissern, dass sie allein war, dann sagte sie ruhig in die leere Luft: »Ich habe Angst.«
»Ich weiß«, antwortete Astronaut; seine Stimme sprach leise durch den Bibliothekstransceiver zu ihr.
»Bekommst du manchmal Angst?«, fragte Rachel.
»Ich verspüre Besorgnis über negative Resultate intendierter Vorgänge. Ich durchlaufe dabei keine metabolischen Veränderungen.«
»Du bist genauso selbstsicher wie immer«, beschwerte sich Rachel. »Wie wäre es, wenn du mir sagen würdest, was dir Angst macht?«
»Was riskiere ich, indem ich dich unterrichte?«
Die Räte würden vielleicht Astronauts Gedächtnis löschen oder seine höheren Funktionen so beschneiden, dass er nur noch als Autopilot für ein Pflanzungskombinat zu gebrauchen wäre. »Sind wir sicher?«
»Treesa tut Dienst.« Ein versteckter Hinweis, dass die Frau aus dem Garten wach war und ihr Können anwandte, um kleine Veränderungen am Datenstrom vorzunehmen, durch die sie Unterhaltungen zwischen Rachel und Astronaut maskierte und mitunter auch Gespräche Rachels mit anderen Personen verbarg. Treesa hatte wenig Vertrauen in ihre Arbeit, falls jemand eine genaue Überprüfung vornahm. Selbst auf Selene war der Informationsfluss zu reichhaltig, als dass Treesa und ihre Programme sich um jede erdenkliche Kamera und jeden Sensor hätten kümmern können. Astronaut besaß keine Berechtigung, die es ihm erlaubt hätte, Daten zu verändern. Er half, indem er Treesa zu den wichtigsten Datenströmen dirigierte. Rachel machte sich keine großen Sorgen darüber, dass Shane oder Star die Zeit haben mochten, sie zu beobachten, doch von Bord der John Glenn aus wurde Selene ständig von Leuten überwacht, die sich mit nichts anderem beschäftigten.
Rachel schob ihre Ängste beiseite. Ihre nächtlichen Unterrichtsstunden bei Astronaut waren zu einem Ritual geworden. Sie war in ein eigenes kleines Haus in der Nähe der Gewächshäuser gezogen, vorgeblich, um sich an ihren freien Tagen um die Schülerbeete zu kümmern. Treesa und Astronaut hatten sie davon überzeugt, dass sie damit beginnen musste, andere zu unterrichten. Ihre persönlichen Ängste verblassten zur Bedeutungslosigkeit im Vergleich zu ihrer Befürchtung, dass die Räte ihr Schiff auftanken und Selene im Stich lassen würden. Was würde geschehen, wenn die Mondgeborenen die umfangreichen Ressourcen der John Glenn verloren? Und wenn sie selbst Gabriel und Astronaut und Treesa verlor?
Treesa und Astronaut sorgten dafür, dass sich Rachel mit Jeanne D’Arc, Mohandas Gandhi, Martin Luther King und Hitler befasste. Treesa hatte Rachel dargelegt, sie müsse verstehen, welchen Effekt ein einzelner Mensch auf politische und gesellschaftliche Entwicklungen haben konnte. Was Rachel verstand, war, dass all diese Leute eines gewaltsamen Todes gestorben waren.
Rachel, Nick und Harry samt seiner Familie trafen sich oft und redeten über Möglichkeiten, mehr Freiheit zu erlangen. Rachel selbst würde bei dem Faktor Erziehung ansetzen, mit ihrer Eröffnungsrede am Prüfungstag. Mit ihrer Ansprache würde sie keine der offiziellen Regeln brechen. Shane und Star würde es nicht gefallen, doch die beiden würden nicht vor dem späten Nachmittag zurückkommen, wenn es an der Zeit war, die Ergebnisse bekanntzugeben.
Ali hatte auf ebendieser Empore gesessen
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