Harlekins Mond
gewesen, bis er sie am Ende betrogen hatte, und jetzt würde er bestimmt einsehen, dass er sich geirrt und Liren recht gehabt hatte. Das musste er einfach! Es war doch vollkommen klar! Wenn sie erst auf Selene war, würde sie einen Weg finden, die Sache in Ordnung zu bringen. Ja, das würde sie.
KAPITEL 63
VERDACHT
Gabriel versuchte, vier Datenfenster gleichzeitig im Auge zu behalten. Ali saß neben ihm, eine Hand auf seiner Schulter, und beobachtete dieselben vier Fenster. Kristin arbeitete am anderen Ende des Tisches; Ströme von Archivdaten umflossen sie. Gabriel konnte nicht erfassen, was Kristin tat, doch Licht flackerte und leise Geräusche drangen aus den Datenströmen: Stimmen, Unterhaltungen, in leicht beschleunigtem Tempo. Kristins Gesicht war schlaff, ihr Mund stand ein klein wenig offen, ihre Aufmerksamkeit war zur Gänze auf ihre Arbeit konzentriert.
Ali deutete auf eines der Datenfenster. »Rachel hat ihre Gruppe verlassen«, stellte sie fest.
Gabriel folgte ihrem Finger mit den Augen. Im zweiten Fenster war ein Paar leuchtend gelb-blauer Schwingen zu sehen, die über die Felder zurück in Richtung Camp Clarke flogen. Ein zweites Paar Schwingen folgte Rachel, fiel dabei leicht hinter ihr zurück. Ein Mann. Seine stämmigere Gestalt machte ihn als Erdgeborenen kenntlich.
»Wer ist das, der da hinter ihr herfliegt?«
»Das ist Bruce. Ich erkenne ihn an seinen Schwingen. Gut für ihn.«
Und wieder wurde er daran erinnert, dass Ali die Leute auf Selene besser kannte als er. Gabriel verzog das Gesicht. »Ich will hoffen, dass sie nur Vorräte holen wollen«, sagte er.
»Dylan ist in dem Lagerhaus«, erinnerte ihn Ali.
Das war Antwort genug. Gabriel schaute hinüber und betrachtete das Lagerhaus in der Luftaufnahme. Es war ein großes rechteckiges Gebäude, zwei Stockwerke hoch, auf dem Dach gab es eine Landeplattform und die Aufbauten eines Lastenaufzugs; eine einzelne Tür führte vom Dach aus ins Innere. Das Gebäude war von anderen Lagerungs- und Fertigungseinrichtungen umgeben, jedoch war keine darunter von vergleichbarer Höhe. Durfte er sich der Hoffnung hingeben, dass Andrew sich dieses Gebäude nur wegen seiner Größe ausgesucht hatte, und nicht wegen dem, was sich darin befand? Vermutlich war es besser, nicht darauf zu zählen.
Zahlreiche Räte, möglicherweise sogar sämtliche Ratsangehörige auf dem Stützpunkt, hatten um das Gebäude herum Stellung bezogen, behielten die Ecken im Auge, lehnten an den Hauswänden und beobachteten den Himmel. Sie schienen auf etwas zu warten.
Rachel flog weiter unbeirrt Richtung Lagerhaus. Bruce fiel ein wenig zurück. Die beiden überflogen den Zaun, blieben in geringer Höhe und außer Sicht von jedem, den Gabriel am Boden ausmachen konnte. Woher wusste Rachel, welche Routen sicher waren? Gabriel beobachtete, wie sie und ihr Begleiter den Lagerungs- und Fertigungsbezirk erreichten und im Tiefflug zwischen die Gebäude tauchten.
Ali stand auf und streifte Gabriel mit den Lippen über die Wange. Sie verschwand in der Küchenecke außerhalb des Konferenzraums. Gabriel war überrascht, dass sie sich diesen Moment aussuchte, um hinauszugehen. Ausgerechnet jetzt bekam sie Durst? Während sich Camp Clarke beinahe im Kriegszustand befand und Rachel geradewegs dort hineinflog? »Ali -komm her! Was du da hinten auch machst, es kann warten.«
»Ich bin sofort wieder da«, rief sie.
Vor ihm auf dem Schirm steckte einer der Mondgeborenen -eine junge Frau, die Gabriel unbekannt war – kurz den Kopf aus der Aufzugstür und schaute sich um. Vier Mondgeborene gingen an den Dachkanten entlang Streife. Gabriel erkannte unter ihnen Justin, Rachels Halbbruder, den Zwillingsbruder von Jacob.
Einige der Räte schienen ein freies Schussfeld auf Justin zu haben, doch niemand feuerte.
Das Lagerhaus wurde auch für Fertigungsvorgänge benutzt -folglich musste es im Innern Vorrichtungen zur visuellen Überwachung geben. »Astronaut? Such mir Kennungen für Kameras im Innern des Lagerhauses, und einen Bauplan.«
Ali kam zurück und reichte Gabriel ein Glas grünlich gefärbten Wassers, das nach Vitaminen roch. Er seufzte. Wieso war er ihr gegenüber so angespannt? »Danke«, sagte er und trank in langen Zügen; trotz all der Flüssigkeit, die er schon zu sich genommen hatte, war sein Körper immer noch durstig.
Ali lächelte kurz. »Ich möchte möglichst schnell dort hinunter. Wir müssen sichergehen, dass du durch die medizinischen Checks kommst, damit du die
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