Harlekins Mond
Lichter verstreut wie Perlenketten. Der Anblick erinnerte an den von Selene vom Weltraum aus, nur war dieser Himmelskörper in ebenso leuchtende Farben gekleidet wie Kyu. Der Blickpunkt der Kamera raste auf die grünblaue Masse zu. Sie wurde größer, mehr Einzelheiten wurden erkennbar, die Kamera fiel, und gleich darauf flog sie über einem schier endlosen Wald dahin. Rachel zwang sich, ihren Griff um die Armlehnen zu entspannen.
Die Vegetation war so dicht, dass man einzig von oben einen Überblick bekommen konnte.
Rachel konnte nicht einmal Straßen erkennen. Weiter und weiter ging es, wobei sich der Blickwinkel zuweilen auf geringe Höhe verlagerte, wenn die Kamera einem Flusslauf folgte. Rachel war begeistert. War es das, was sie aus Selene machen würden?
»Das ist die Erde?«, fragte sie.
Das Bild wechselte und zeigte Sand. Hügel und Dünen, alle von der gleichen Farbe, einander so ähnlich, dass Rachel ihre Größe nicht einschätzen konnte, doch es gab keine großen Gesteinstrümmer von Einschlägen und – keine Krater! »Ihr müsst euch sehr viel Mühe gegeben haben, um all die Krater verschwinden zu lassen.«
»Nein.« Treesa lachte. Die Papageien raschelten in ihrem Käfig.
Erneut wechselte die Szenerie – und man sah Wasser. Mehr Wasser als im Meer der Hammerschläge – so viel, dass Rachel überhaupt keine Ufer mehr sehen konnte. Wasser, so blau, dass es aussah, als ginge es dort unendlich tief hinunter – ruhiges Wasser, und dann, nach langer Zeit, Ausdehnungen von grünerem Wasser, das vom Wind zu kleinen Wellen mit weißen Schaumkronen gekräuselt wurde. Der Blick der Kamera glitt lange Zeit über Wasser dahin und verhielt dann an einer Stelle, an der sich ein großer Berg aus dem Meer erhob.
Das Meer war an dieser Stelle wieder ruhig und blau. Der Berg war zerklüftet, dunkel und wies scharfe glasige Grate auf; eine wallende schwarze Wolke stand über der Spitze des Bergs, und weiße Sprenkel fielen aus ihr heraus in den Ozean, wo sie verschwanden. Ein schmaler Strom aus einer roten Flüssigkeit lief eine enge Kluft hinunter, und wo der rote Fluss ins Wasser eintrat, stieg Dampf auf und betupfte die Unterseite der schwarzen Wolke mit Weiß.
Rachel bemühte sich, den Sinn hinter dem zu erkennen, was sie da sah. »Wozu hat man so etwas entworfen? Um das Wasser aufzuheizen?«
»Niemand hat es entworfen.«
»Aber – wer hat es erschaffen?«
»Manche Leute sagen, Gott hätte es erschaffen.«
Wieder jemand, dem sie noch nicht begegnet war? »War er wie Gabriel?«
»Ich versichere dir, Gabriel ist ein Mensch.« Treesa lachte erneut. Ihre Stimme klang dünn. »Und selbst Gabriel wäre nicht imstande, einen Planeten mit einer solchen Vielfalt wie die Erde zu erschaffen.«
Rachel gab sich geschlagen. Angesichts von Treesas Lachen kam sie sich dumm vor. Wenigstens schien Treesa nicht über sie zu lachen. »Ich verstehe das nicht.«
»Hat dich niemand Geschichte gelehrt? Wir gestalten nicht jeden Ort, an dem wir leben. Wir – der Rat, ich, du – sind nicht der Mittelpunkt von allem. Schließlich haben wir auch Harlekin nicht erschaffen. Wir haben die kleinen Monde nicht erschaffen, die wir haben zusammenstoßen lassen, um daraus Selene zu formen. Glaub nicht einfach alles, was man dir sagt – setz deinen kritischen Verstand ein. Und jetzt musst du gehen! Kyu wird vermutlich schon nach dir suchen.«
»Aber … wer hat die Erde erschaffen?«
»Wer hat Harlekin erschaffen? Oder Apollo?«
»Ohhh …« Rachel ließ diese Vorstellung langsam mit dem Entweichen ihres Atems Gestalt annehmen. Es gab jemanden, der noch höher stand als der Hohe Rat? Schließlich wandte sie ein: »Aber ihr habt Selene erschaffen. Gabriel hat Selene erschaffen.«
»Mit ein klein wenig Hilfe von seinen Freunden.« Treesa lachte abermals. »Wir – also auch du – haben uns auf der Erde entwickelt … durch Evolution. Die Erde hat uns erschaffen! Als die Erde jung war, gab es dort ebenso wenig Leben wie auf Selene. Was du da aus dem Vulkan hast kommen sehen – dem Berg im Meer –, das war das Blut der Erde. Selene ist ein Versuch, einen toten Felsen zum Leben zu erwecken, indem wir einen Ort ohne Feuer mit einer Decke überzogen haben. Und ganz egal, wie weit wir es gebracht haben – das war keine geringe Leistung. Allerdings muss Gabriel noch sein Herz entdecken. Darüber ist er sich nicht im Klaren. Es mag sein, dass du dabei noch eine Rolle zu spielen hast.«
Die Erde hatte die Menschen erschaffen?
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