Harlekins Mond
Frösche finden würde oder nicht. Die Tiere waren tagsüber schwer zu erkennen – die von Kyu empfohlene Vorgehensweise bestand darin, sie durch Wühlen im Laub aufzuscheuchen und dabei nach den auffälligen roten Augen Ausschau zu halten.
Das würde ein langer Vormittag werden.
Wenigstens würde es an diesem Nachmittag etwas Neues geben, auf das sie sich freuen konnte. Gabriel hatte versprochen, ihr den Zugang zur Archivbibliothek des Schiffes zu ermöglichen. Kyu hatte sogar gesagt: »Machen Sie sie mit der Bibliothek bekannt«, als handele es sich dabei um eine lebende Person. Bislang bestand alles, was Rachel von der Bibliothek mitbekommen hatte, aus den kleinen Downloads, die Kyu ihr aufs Armbandgerät schickte. Manche der Lektionen, die Gabriel lehrte, mussten aus der Bibliothek stammen. Was musste es dort sonst noch alles geben? Kyu, Gabriel, Ali … sie alle wussten so viel!
Rachel ging vorsichtig die schmalen Dschungelpfade entlang, sorgfältig darauf bedacht, nicht irgendwelche Blätter zu zerquetschen oder in den Nährboden zu treten.
Jeder falsche Schritt würde aufgezeichnet werden, und Kyu würde die Stirn runzeln und sie die Schäden selbst beseitigen lassen. Gefühlsmäßig war Rachel hin- und hergerissen zwischen aufgeregter Erwartung im Hinblick auf die Bibliothek und der Sehnsucht nach Harry. Wäre er doch nur hier! Doch selbst Ursula wäre ihr jetzt höchst willkommen gewesen. Einer von ihnen hätte die Frösche aufscheuchen und der andere sie fangen können.
Rachel kniete und hielt den ersten Fang dieses Morgens behutsam in der rechten Hand, als hinter ihr Schritte in einem langsamen, ihr unvertrauten Rhythmus erklangen.
Auf dem Weg stand eine Frau, die Rachel noch nie gesehen hatte – sie war so dünn wie Ursula und merkwürdig ungekämmt. Ihr wirres Haar wies graue Strähnen auf und hing ihr in einem wilden Durcheinander auf die Schultern. Die Haut um Augen und Mund war faltig. Sie trug einen grünen Overall ähnlich dem von Rachel, eine Standardausführung, nur dass ihrer an den Knien nahezu durchgescheuert war. War diese Frau Mitglied des Rates? Das musste sie wohl, wenn sie hier war. Rachel hatte, außer auf Bildern, noch nie jemanden gesehen, der so alt aussah. Und jedes Mitglied des Rates wie auch des Hohen Rates, außer vielleicht Liren, trug irgendeine Art von Schmuck oder Zierrat. Selbst der Captain trug bunte Westen in wechselnden Farben. Diese Frau hingegen wirkte äußerst schlicht.
»Du bist also Rachel.« Ihre Stimme war kratzig, tiefer als die von Kyu, weniger beherrscht als die von Ma Liren.
Natürlich wusste sie, wer Rachel war. Jeder kannte sie. Rachel seufzte; sie war derartige Einwegbekanntschaften leid. »Das ist offensichtlich kein Geheimnis«, sagte sie. »Ich bin hier für niemanden ein Geheimnis. Und Sie sind …?«
Die Frau taxierte sie mit prüfendem Blick. »Woran hast du gerade eben gedacht?«
»Hm?«
»Bevor ich mich bemerkbar gemacht habe, warst du tief in Gedanken versunken. Ich kann das beurteilen – ich beobachte viel. Es war, als wärst du gar nicht hier.«
»Ich fange Frösche.«
»Und?«
»Ich habe an zu Hause gedacht.«
»Vermisst du Selene?«
»Natürlich!« Der Frosch in Rachels Hand zappelte, und sie umfasste ihn fester.
»Ich vermisse mein Zuhause auch.«
»Leben Sie denn nicht hier?«
»Mit Zuhause meine ich die Erde.«
War diese Frau verrückt? »Gabriel hat gesagt, die Erde sei tot.«
»Das wissen wir nicht. Wir wissen nur, dass von dort niemand mit uns redet.« Die Frau blickte in die Ferne, am Stamm von Yggdrasil vorbei, hinauf zu dem Pflanzenbewuchs, der auf seine unerhörte Weise verkehrt herum über ihnen hing. Ihre Stimme war leise, als sie fortfuhr: »Allerdings müssen sie glauben, wir seien verschollen. Dabei sind ohnehin nur noch so wenige von uns übrig.«
Wenige? Rachel musste an Bord der John Glenn mindestens 30 Räten begegnet sein, und dazu Hunderten von Menschen auf Selene, wenn man Mondkinder und Erdgeborene zusammenzählte. Kyu hatte ihr einmal etwas von fast 2000 »Eiswürfeln« erzählt – Leuten, die seit langer Zeit im Kälteschlaf lagen. Das war eine Menge. »Wie viele Menschen gab es auf der Erde, als ihr von dort weggegangen seid?«
»Zwölf Milliarden auf der Erde. 20 Milliarden, wenn man die Leute mitzählt, die in den Orbitalwohnanlagen und im Rest des Systems gelebt haben. Und dabei kann man die Maschinenintelligenzen noch nicht einmal dazurechnen.«
»Wieso nicht?«, fragte Rachel. »Was ist
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