Harlekins Mond
Harry nicht sagen?
»Andernfalls wirst du sie verlieren. Wir sind in der Lage, ihn von hier aus abzustellen, auch während du dich auf Selene aufhältst.«
Rachel zitterte. Sie fühlte sich sogar noch stärker von ihrer Familie und ihren Freunden getrennt als zuvor. Jetzt hatte sie noch mehr Geheimnisse. Durch das Geheimhalten ihrer Beziehung zu Harry hatte sie Ursula wehgetan.
»Um effektiv zu sein werde ich nicht umhinkommen, sie zu benutzen. Das heißt, die Leute um mich herum werden Bescheid wissen.«
»Sie werden wissen, dass du ebenso wie wir an Informationen gelangen kannst. Erzähl ihnen erst einmal nichts von der Bibliothek, und lass auch niemanden sonst durch dich Fragen an sie richten. Verstanden?«
»Ich werde es versuchen.«
»Mach dir darüber im Augenblick keine Gedanken«, sagte Kyu. »Wenn wir wieder in deinem Quartier sind, werde ich dir zeigen, wie man einfache Anfragen durchführt.«
KAPITEL 20
SACKGASSEN
»Aztekenameisen; Ameisenbaum.« Nach drei Wochen hatte Rachel erlernt, wie man nahezu stumme Anfragen durchführen konnte. Ihr Kehlkopf bewegte sich noch stärker, als es bei Kyu oder Gabriel der Fall war, und bei den »P« -Lauten spitzte sie noch immer die Lippen.
Zu beiden Seiten von ihr öffneten sich Datenfenster und füllten sich augenblicklich mit Listen. 237 Einträge. Sie seufzte.
»Versuch es noch einmal.« Kyus Gesichtszüge zeigten einen Ausdruck heiterer Gelassenheit, den Rachel mit Geduld assoziierte. Rachel hasste diesen Blick.
Sie und Kyu waren allein in dem größten Labor – es war durch Doppeltüren und eine komplette Luftschleuse vom Rest des Gartens getrennt. In den Wänden summten unablässig irgendwelche Apparaturen, und farbige Lämpchen blinkten über diversen Experimentierkästen. In einem großen durchsichtigen Behälter auf dem Arbeitstisch vor ihr krabbelten braune Aztekenameisen auf dem Ast eines Ameisenbaums herum. Rachel seufzte. »In Resultaten. Zweck.«
Nun gab es 50 Einträge. Die ersten drei Zusammenfassungen, die sie abfragte, definierten den Zweck spezifischer Forschung. Es kam dem, was sie hatte erfragen wollen, nicht einmal nahe. Würde ihr die Nutzung der Bibliothek jemals so leichtfallen wie Kyu und Gabriel?
Kyu schüttelte den Kopf; ihre gelben Haarperlen rasselten gegeneinander. »Was leisten die Ameisen für den Baum?«
Rachel richtete ihr Augenmerk auf eine einzelne Ameise, die einfach nur ziellos herumzulaufen schien. »Voller Suchlauf. Ameisenbaum; Aztekenameisen; Symbiose.«
Sie brauchte 20 Minuten, um zu herauszufinden, dass die Ameisen den Baum vor dem Befall durch Schlingpflanzen schützten.
Kyu lächelte beifällig. »Und wie würdest du das überprüfen?«
Rachel ging hinüber zu dem Labortisch, hob eine lange blühende Liane auf und schnitt ein Stück von einem halben Meter Länge ab. Sie öffnete den Deckel des Klarsichtbehälters mit den Ameisen und ließ das Stück Liane gegen den Ast des Baums baumeln. Augenblicke später war das untere Ende der Schlingpflanze von Ameisen bedeckt. Die Liane erzitterte, als sich weitere Ameisen von dem Ast her auf sie ergossen und sich daranmachten, auf Rachels Hand zuzuklettern. Sie ließ das Lianenstück fallen, sodass es quer über dem Ast zu liegen kam, richtete einen Datenstrom zu einem Mikrofon ein und lauschte den feuchten, knuspernden Geräuschen, mit denen die Ameisen Blätter und Stängel verzehrten. Als die durchtrennte Schlingpflanze am Boden des Kastens aufschlug, verschwanden die Ameisen fast augenblicklich zurück in Stamm und Äste des Ameisenbaums; nur ein paar blieben zurück und liefen aufmerksam wie Wächter auf Rinde und Blättern umher.
Kyu räusperte sich. »Welche Gründe könnten wir haben, auf Selene Aztekenameisen anzusiedeln?«
»Wenn wir es nicht tun, werden die Ameisenbäume von Lianen überrannt werden – vorausgesetzt, dass wir dort Lianen einführen.«
»Und wieso könnten wir uns dagegen entscheiden?«
»Gegen die Ameisen oder gegen die Schlingpflanzen?«
»Die Ameisen. Schlingpflanzen haben wir bereits eingeführt.«
Im Unterrichtswäldchen auf Selene wurden Insekten nur sehr langsam angesiedelt. Keiner Spezies war bisher gestattet worden, funktionsfähige Kolonien zu errichten. »Weil wir noch nicht das richtige Mischverhältnis von Insekten für unseren Urwald kennen?«
»Sehr gut, Rachel. Wir müssen fortwährend das Gleichgewicht zwischen Raub- und Beutetieren überprüfen, damit nichts überhandnimmt und das ganze Ökosystem
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