Harlekins Mond
man der Ansicht war, wir würden tatsächlich wieder gebraucht.« Da! Diesen Worten konnte er selbst Glauben schenken, wenigstens bis zu einem gewissen Grad.
Rachel schaute auf ihre Hände, wandte sie wieder und wieder um, als versuchte sie vergeblich, sie als ihre eigenen zu erkennen. Sie schluckte und sah dann Gabriel von wilder Angst erfüllt an. »Wie lange habe ich geschlafen? Hundert Jahre? Tausend? Sechzigtausend?«
»Nein, nein, nein. Zwanzig Jahre. Und vier Monate.«
Sie wandte den Blick von ihm ab, sagte nichts, machte keine Bewegung, die etwas über ihre Gefühle verraten hätte.
Gabriel beobachtete eine Zeit lang ihren Hinterkopf, dann zentrierte er das Bild von Harlekin, sodass sie es direkt vor Augen hatte. Er wechselte die Kameraperspektiven, damit sich Selene von links her ins Bild bewegte, als nage sie ein Loch in Harlekin. Das Leben zeigte sich in Gestalt grüner und grauer Fraktalmuster, die in der Nähe des Äquators massiert auftraten. Gabriel zoomte an den Mond heran, bis dieser den Gasriesen Harlekin vollständig verdeckte.
Einzelheiten wurden sichtbar. Aldrin füllte nun den Schirm. Die Stadtränder hatten sich ausgedehnt; es gab mehr Wohnraum und eine Menge mehr Grün. Parks hatten sich mit Bäumen gefüllt, und aus Zelten waren Gebäude geworden.
Er hatte erwartet, dass Rachel zuerst nach Harry fragen würde. Als sie schließlich sprach, hatte ihr Tonfall die maßvolle Langsamkeit der Missgestimmten. »Gabriel«, sagte sie, »was ist mit dem Wäldchen?«
Er schwenkte den Blickwinkel der Kamera fort von Aldrin und folgte einer breiten Straße, die einst ein Feldweg gewesen war. Er hatte sich die Gegend selbst noch nicht eingehend angesehen. Die Wiesen vor den Ersten Bäumen waren übersät mit gelbweißen Blumen. Er fuhr nah heran, weil er sehen wollte, um welche Arten es sich handelte. Gänseblümchen! Das bedeutete, dass es nicht so feucht war, wie er gewollt hatte. Er begann, über Atmosphäre und Feuchtigkeit zu reden und führte einen fortlaufenden Monolog mit Rachels Hinterkopf, während er die Ersten Bäume erkundete. Sie waren höher und breiter geworden und zeigten das Laubdach eines ausgewachsenen Urwaldes mit seiner Vielfalt an Grüntönen. Während Gabriel und Rachel geschlafen hatten, hatte jemand mit Vögeln experimentiert. Da und dort war im Blätterdach ein buntes Aufblitzen von Finken und Sittichen zu sehen, was auch das Vorhandensein von Insekten voraussetzte. Wahrscheinlich Clares Werk. Ihm kam zu Bewusstsein, dass er Rachel nie von seiner Vorgesetzten im Hohen Rat erzählt hatte, also schwadronierte er eine Weile weiter über Cläre, um Rachel abzulenken. Er musste weiterreden, damit sie sich auf seine Worte konzentrierte statt auf die 20 Jahre. Nur gingen ihm langsam die Worte aus, und ihm wurde der Mund zu trocken, um noch lange weiterzusprechen.
Er wünschte, Rachel hätte sich umgedreht, damit er ihr Gesicht hätte sehen können. Es war nicht klug, sie zu drängen. Die meisten Missgestimmten, die Verrücktesten unter den Schläfern, waren diejenigen gewesen, die beim Erwachen dem stärksten Druck ausgesetzt gewesen waren. Der Rat hatte gelernt, den Leuten Zeit zu geben.
Rachels Kopf bewegte sich langsam von rechts nach links, während sie zusah, wie Selene an ihr vorbeizog. Sie sagte: »Zeig mir meine Parzelle.«
Natürlich. Gabriel suchte. Das Unterrichtswäldchen war gewachsen. Er musste zur Sicherheit noch einmal nachsehen. »Da ist sie.«
Der Ameisenbaum, den sie gepflanzt und gehegt hatte, machte ihre Parzelle unverkennbar. Er war höher geworden als die anderen Bäume rings um ihn, durchbrach das niedrigere Blätterdach und ragte darüber empor. Die Bäume waren gesund und leuchteten in einer Sinfonie aus Grüntönen, und die Wege, die um sie herumführten, sahen sorgfältig gepflegt aus. Lianen zogen sich durch den kleinen Urwald, und zwei kleine gelbblaue Vögel hüpften auf einer breiten Ranke hintereinander her.
Endlich wandte sich Rachel zu ihm um, und genau wie an dem Tag, an dem er ihr mitgeteilt hatte, dass sie beide in den Kälteschlaf gehen würden, hatte sie Tränen in den Augen. Er hasste das.
»Gabriel, was ist mit meiner Familie?«
»Nicht so schnell. Damit solltest du noch warten.« Das würde kompliziert werden.
»Ist irgendetwas Schlimmes passiert?« Sie sah verängstigt aus. Wieso stellte er sich so erbärmlich ungeschickt an? Weil sie ihm so leid tat?
»Du hast erst einmal genug zu verarbeiten«, sagte er ein wenig zu
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