Harlekins Mond
Andrew.
Sie musste Gabriel überzeugen, ihr zu sagen, was in der Zwischenzeit geschehen war, und ihn dazu bringen, dass er ihr das Armbandgerät zurückgab und ihre Kommunikationsverbindung wiederherstellte. Irgendwie musste sie nach Hause gelangen. Sie würde nicht hierbleiben; jetzt nicht mehr. Sie würde sich von den Ratsleuten nicht dazu nötigen lassen. Zu viele unerwartete Dinge waren geschehen. Sie übte Yoga und versuchte, sich auf ihre Begegnung mit Gabriel vorzubereiten. Selbst während sie auf einem Bein balancierte, spielte ihr Verstand Szenarien durch: Was war im Verlauf von 20 Jahren aus ihren Freunden geworden?
Wartete Harry auf sie? Das konnte nicht sein. Ihr Atem stockte, sie begann zur Seite zu kippen und bemühte sich, das Gleichgewicht zu halten. Was war aus Ursula geworden? Hatte sie es in die Pflanzteams geschafft? Hatte sie noch immer Angst vor den großen Pflanzern? Rachel spannte die Oberschenkel an, um ihrem Standbein Kraft zu verleihen, und langte nach hinten. Mit der Hand erfasste sie locker ihren Fuß und zog ihn zu sich herauf, bog sich durch, sodass sie sich mit der Fußsohle ihrem Hinterkopf näherte.
Dad! Bestimmt war ihm klar, dass sie das nicht gewollt hatte. Rachel begann zu wackeln und streckte den Arm, den sie vor sich hielt, gerade durch, um im Gleichgewicht zu bleiben. Sie musste stark sein, um Gabriel dazu zu bringen, dass er sie nach Hause gehen ließ.
Als Gabriel schließlich in der Tür erschien, saß Rachel im Schneidersitz auf dem Bett. Sie blinzelte und schaute an ihm vorbei, nicht sicher, ob sie seinem Blick begegnen und dabei würde ruhig bleiben können. Er trug ein Tablett mit Brot, Apfelstücken und Tee in der rechten Hand, und er war formell gekleidet. Sein langes Haar war sorgfältig gekämmt und fiel ihm offen bis zu den Hüften hinunter. Er lächelte, und gegen ihren Willen rief er damit ihr eigenes Lächeln wach.
Er drehte einen Knopf neben der Tür. Der Knopf war seit jeher dort gewesen, doch Rachel hatte noch nie gesehen, dass ihn irgendjemand berührt hatte.
»Wozu ist das gut?«, fragte sie.
»Es aktiviert den Privatsphärenschutz – alles, was hier drinnen passiert, wird zwar immer noch aufgezeichnet, aber niemand bekommt es zu sehen, ausgenommen auf Anordnung des Captains.«
Sie dachte an die Abende, an denen sie weinend mit dem Rücken zur Tür gesessen hatte. »Wieso hast du mir bis jetzt nie etwas davon erzählt?«
»Hat Kyu es dir nicht gesagt?«
»Niemand sagt mir hier irgendetwas!« Sie hörte die Schärfe in ihrer Stimme.
»Du bist wütend.« Er reichte ihr Wasser und Tee, und sie trank das Wasser in einem langen Zug aus und hielt sich mit dem Tee zunächst zurück. Er wärmte ihr die Hände.
Wenn sie sich nicht beeilte, würde sie der Mut verlassen.
»Gabriel – ich will nach Hause. Nach Aldrin. Heute noch. Ich muss wissen, was inzwischen passiert ist.«
»Bald.« Gabriel setzte sich zu ihr auf die Bettkante. »Du brauchst mehr Zeit, um dich zu akklimatisieren. Bevor du dort hinuntergehst, musst du dich erst an die Vorstellung fehlender Zeitabschnitte gewöhnen – manche Dinge sind nicht mehr so, wie du sie zurückgelassen hast.«
»Wie könnten sie auch! Du hast mir Selene doch gezeigt. All dies Neue –« Hielt er sie wirklich für so dumm? »Gabriel – ich weiß, dass es dort anders ist als früher. Was würdest du denn machen, wenn wir auf Selene wären und du wüsstest, dass sich irgendwie auf der John Glenn alles verändert hätte und du keine Möglichkeit hättest, hierher zurückzukommen?«
»Zeit ist vergangen; das ist alles. Das nächste Mal, wenn ich Ali wiedersehe, wird sie sechs Monate gelebt haben, die mir fehlen.« Er knabberte an einem Apfelstück. »Eines weiß ich allerdings. Dein Verstand hat sich an die Veränderung noch nicht angepasst. Neue Dinge muss man langsam akzeptieren. Das gilt selbst für diejenigen von uns, die diese kalten Zeitsprünge noch am ehesten gewohnt sind.«
»Ich kann doch jetzt nicht einfach hier herumsitzen! Ich muss Harry sehen.«
»Harry ist vertraglich gebunden.« Gabriels Stimme klang unpersönlich, als hätte er gesagt: »Apollo ist aufgegangen.«
Der Schmerz, der sie durchfuhr, war fast körperlich spürbar, er zwang sie, die Augen zu schließen. Doch sie sagte nichts. Sie hatte darüber nachgedacht, in den kurzen Augenblicken, bevor der Schlaf sie übermannt hatte, in der vergangenen Nacht, während ihr Körper reglos in der Totenstille gelegen hatte, abgeschnitten von
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