Harlekins Mond
unten mit einem Jungen befreundet. Jetzt ist er doppelt so alt wie sie! Die Mondgeborenen sehen Zeit nicht so wie wir – wie sollten sie auch? Hat es irgendjemand für nötig gehalten, sie nach ihrem Einverständnis zu fragen?«
»Gabe, sie war kalt. Und wir waren anderweitig beschäftigt.«
»Hat ihre Familie nicht nach ihr gefragt?«
»Das weiß ich nicht.«
Gabriel hätte sich liebend gern weitergestritten, doch der Mann, den er hier vor sich hatte, war sein Captain. Er schluckte, ging weiter und blieb dabei vor dem Captain, damit dieser den Ärger in Gabriels Gesicht nicht zu sehen bekam. »Ich hätte bei den Eruptionsmaßnahmen helfen können«, sagte er ruhig.
»Nur die Ruhe. Sie sind viel zu angespannt. Sie können nicht alles im Alleingang erledigen«, hielt ihm der Captain entgegen und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Wir haben das schon ganz ordentlich hinbekommen. Es ist wirklich keine große Sache. Sehen Sie zu, dass Sie ein bisschen inneren Abstand gewinnen!«
Gabriel saß allein in seinem Büroraum. Informationen strömten aus dem Netz der John Glenn in die Datenfenster, mit denen Gabriel sich umgeben hatte. Einer der Datenströme zeigte einen summarischen Feed der Medizinischen Kontrolleinheit: Rachel wurde warm.
Gabriel nickte geistesabwesend, während er den Datenstrom beobachtete. Das Mädchen war noch weit davon entfernt, das Bewusstsein wiederzuerlangen. Astronaut überwachte die Feinheiten. Die KI meldete: »Sie erwacht langsam. Denk daran, dies ist ein Novum. Die Medizinische Kontrollautomatik stellt geringfügige Diskrepanzen zur Physiologie der Erdgeborenen fest. Rachels Knochenstruktur und die Aktivitäten mancher Drüsen sind an eine niedrigere Schwerkraft angepasst. Entsprechende Modifikationen werden vorgenommen.«
Gabriel antwortete lediglich mit einem knappen Nicken. Er hatte nicht allzu viel Geduld.
Er schaltete eine zweidimensionale Liste auf eine der Bildwände – die von ihm und Astronaut gemeinsam ausgearbeiteten Empfehlungen hinsichtlich dessen, was Rachel zu sehen bekommen sollte, wenn sie aufwachte. Nach Gefühl fügte er kleine Dinge hinzu und nahm andere heraus, immer getreu den Kardinalregeln: Ohne einen Notfall niemals mit einem Schock anfangen, sondern möglichst nahe an dem bleiben, was der Erwachende liebt; sichergehen, dass der Sprung vom letzten wachen Eindruck des Betreffenden zu seinem ersten nicht zu groß war. Die Routinearbeit ermöglichte Gabriel, die Hälfte seiner Aufmerksamkeit der Betrachtung von Selene zu widmen, deren Bild an seine Decke projiziert wurde.
Die letzten 20 Jahre hatten einen größeren Unterschied ausgemacht als jeder vergleichbare Zeitabschnitt seit den frühen Tagen, in denen sie Asteroiden hatten kollidieren lassen. Fast fünf Prozent des terraformierten Mondes waren inzwischen grün, und weitere fünf wiesen die Farbe von fruchtbarem Boden auf – das durchmischte rötliche Braun von Regolith, dem Leben eingehaucht worden war. Draußen in den Pflanzungen war eine Siedlung namens Gagarin entstanden, die beinahe so groß war wie Aldrin, als er es zuletzt gesehen hatte. Wie seinerzeit Aldrin war Gagarin eine Zeltstadt mit einem Gemeinschafts-Strahlenschutzraum.
»Astronaut – den Verlaufsweg des Teilchenbeschleunigers darüberlegen.«
Eine leuchtend weiße Linie nahm ihren Anfang fünf Grad südlich von Camp Clarke, lief ein kleines Stückchen nördlich an Erikas Fehlschuss vorbei und zog sich dann durch einen weiten Bereich des kleinen Mondes, den Gabriel als Ödland belassen hatte. Als er heranzoomte, sah er trotzdem noch ein paar Flecken von stumpfem Grün und Grau, bei denen es sich um Flechten oder Moose handeln mochte. Er war nicht besonders glücklich darüber, Dinge auf der Seite von Selene wachsen zu sehen, wo er sie nicht gepflanzt hatte; er und Ali führten eine fortdauernde Debatte darüber, wie schnell sich auf Selene unintendierte Konsequenzen einstellen würden. Wie es aussah, gewann Ali. Sie wäre nie imstande gewesen, Selene zu erschaffen, aber als Biologin war sie schlichtweg umwerfend.
Nun, dann würden sie dem Wachstum der Vegetation halt seinen Lauf lassen. Sie würde das nötige Erdreich für das erzeugen, was er eines Tages darauf anpflanzen würde.
Die weiße Linie verlief beinahe entlang Selenes Äquator. Gabriel folgte dem Kreis um den Mond herum bis zu dem Punkt, an dem die beiden Enden des Teilchenbeschleunigers aufeinandertreffen würden. Dort, südlich des Stützpunkts, waren bereits
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