Harmlose Hölle - Raum 213 ; Bd. 1
Erzähl!«
Toby stöhnte hörbar. »Ja. Oh! Mein! Gott! Blutüberströmt!«, sagte er und betonte dabei jedes einzelne Wort. »Das Messer hat eine Wunde in Herzform in ihre Brust gerissen. Es war ein Mord aus Leidenschaft!«
Trish riss die Augen auf. »Echt?« Sie wandte sich triumphierend an ihre Freundinnen. »Seht ihr, ich hab es doch gesagt.«
»Lauft«, zischte Toby den Mädels zu. »Ich lenke sie ab.«
Ehe Liv reagieren konnte, zog Mai sie schon mit sich. Hinter sich hörten sie, wie Toby sich Trish und ihrem Gefolge in den Weg stellte.
»Jungsklo?«, keuchte Mai.
Liv nickte nur. Gemeinsam liefen sie ins Treppenhaus, passierten den ersten Stock und bogen oben im zweiten Stock rechts in den Flur ab. Hier waren nur wenige Schüler unterwegs, sodass sie niemand aufhielt. Mai lief voraus und war schon am Jungsklo angelangt, als Liv etwas aus den Augenwinkeln sah.
Es war nur eine kleine Bewegung, nur ein kurzes Aufschwingen einer Tür, als wenn jemand für einen winzigen Moment auf den Flur geschaut hätte. Aber etwas stimmte mit der Bewegung nicht.
Liv blieb stehen. Dann wandte sie langsam den Kopf. »Komm schon«, sagte Mai ungeduldig.
»Warte!« Liv schüttelte ihren schmerzenden Kopf. Auch wenn sie sich das eingebildet hatte, sie musste sichergehen. Mit ein paar Schritten war sie an der Tür und drehte den Knauf. Nichts.
Mai kam zurück. »Liv, was soll das?«, sagte sie irritiert. »Das ist Raum 213.«
Ja klar. Mai hatte recht. Der Raum war natürlich verschlossen, wie immer. Aber –
Plötzlich kam Toby um die Ecke gestürmt. »Bewegung, Mädels, Hellgirl im Anmarsch.« Er stürmte an ihnen vorbei ins Jungsklo und Liv und Mai folgten ihm.
Ein paar Siebtklässler vor den Pinkelbecken kreischten angesichts der Mädchen empört auf, aber Toby zog Mai und Liv in den kleinen Verschlag, in dem die Putzsachen aufbewahrt wurden.
»Was hast du Trisha erzählt?«, fragte Liv.
Über Tobys Gesicht ging ein Strahlen und er öffnete schon den Mund, aber sie winkte ab.
»Ich möchte es gar nicht wissen«, sagte sie. Plötzlich fühlte sie sich wieder unendlich erschöpft und hatte das Gefühl, dass jeder Knochen in ihrem Leib von dem Sturz wehtat. Kein Wunder, dass sie sich einbildete, irgendwelche Türen gingen auf. Vermutlich würde sie gleich anfangen zu heulen wie ein kleines Kind, dem man seine Barbie weggenommen hatte.
»Du musst was trinken«, sagte Mai, die manchmal überraschend praktisch war. Sie holte eine Wasserflasche aus ihrem Rucksack und gab sie Liv, die einen großen Schluck nahm. »Dir hätte sonst was passieren können. Was willst du denn jetzt machen? Gehst du zur Polizei?«
Liv rieb sich über die Stirn, zuckte aber gleich darauf vor Schmerz zusammen.
»Nein«, sagte sie langsam. »Wisst ihr, ich hab Angst, dass die mich für verrückt halten. Oder noch Schlimmeres. Erst die Sache mit dem Überfall nach der Party, den ich nicht gemeldet hatte. Dann finde ich eine Leiche in unserem Vorgarten. Und schließlich werde ich auch noch selbst angegriffen.«
»Aber warum sollten sie dich für verrückt halten?«
Liv schüttelte den Kopf. »Weil das Ganze keinen Sinn ergibt. Der Mord ist aufgeklärt. Die Polizei hat Ethan verhaftet. Und er kann mich ja wohl schlecht angegriffen haben, wenn er in Untersuchungshaft sitzt.«
Toby und Mai schwiegen.
»Was ist?«, fragte Liv irritiert. »Was guckt ihr beiden denn so komisch?«
Mai räusperte sich. »Dann hast du es noch gar nicht gehört …«
»Was soll ich noch nicht gehört haben?« Plötzlich meldeten sich Livs Kopfschmerzen in voller Stärke zurück.
Toby übernahm. »Die Freundin deines Bruders, sie heißt Summer, oder? Sie hat vorgestern im Diner gearbeitet.«
Liv starrte ihn an. »Na und? Wie kommst du denn jetzt auf Summer?«
»Ethan kann Rachel nicht ermordet haben. Er war von fünf bis kurz nach zehn Uhr im Diner.«
Mai nickte. »Ethan hat ein Alibi. Und zwar eins, das Summer und mit ihr die halbe Stadt bezeugen kann. Die Polizei hat ihn gehen lassen.«
Liv spürte zwei Empfindungen. Die eine war merkwürdigerweise Erleichterung, dass Ethan es nicht gewesen war.
Die andere war Angst.
Angst vor dem, was noch passieren würde.
Zwei Jahre zuvor, Raum 213
Ethan hatte als kleines Kind nicht daran gezweifelt, dass man das Böse sehen konnte. Vielleicht hatte es an seiner Babysitterin gelegen, Maja, die seine erste große Liebe gewesen war.
Wenn er abends nicht einschlafen konnte, weil er steif und fest davon überzeugt war,
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