Harold - Einzlkind: Harold
Natriumchlorid ist ihr Gewand, Durst ihr Gefolge. Harold möchte vor Glück weinen, aber der Ketchup geht nicht aus der Tüte. Möwen kreischen. Nicht so sehr freundlich, als vielmehr fordernd. Sie suchen das schnelle Vergnügen in den Abfallresten. Auch sie vergöttern das Frittierte ohne Augen, und wenn sie eines Tages in den Möwenhimmel kommen, erwarten sie, dass solche Köstlichkeiten von den Bäumen wachsen.
Melvin strohhalmt Cola aus roter Dose, er kümmert sich nicht um fliegende Schnorrer. Er ist überrascht, dass sie es ohne besondere Vorkommnisse bis Brighton geschafft haben, trotz Harolds offensichtlicher Inkompetenz in punkto Fahrtüchtigkeit. Melvin hat sich mittlerweile daran gewöhnt, dass selbst Verkehrsteilnehmer jenseits der 80 und einwandfrei sehbehindert sie gar in engsten Kurven wutschnaubend überholen und nur dank ihrer vollendeten Höflichkeit auf obszöne Gesten und gellendes Gehupe verzichten. Melvin hätte vollstes Verständnis dafür, aber so ist der Engländer nun einmal, ein Gentlemen durch und durch. Nun aber ist es an der Zeit, sich wieder zu fokussieren, auf das nächste Ziel. Er ist zum ersten Mal in seinem Leben auf einem Pier, er wollte hierhin, und alles sieht genauso aus, wie es beschrieben steht.
Das Palace Pier ist Brightons große Attraktion. Insbesondere, nachdem das West Pier Opfer knisternder Flammen wurde. Brandstiftung. Munkelt man. Einzig ein rostiges Gerippe zeugt von vergangenem Glanz. Im Palace Pier hingegen ist auch heute noch das Vergnügen zuhause. Ein Tempel zügellosen Zeitvertreibs, mit Achter-, Geister- und Wasserbahn, die aber gerade alle defekt sind. Dafür kann der Tourist seinen Kopf durch ein Bild stecken, wahlweise die blonde Rettungsschwimmerin oder der in ihren Armen liegende Trottel mit Schwimmflügeln sein und sich fotografieren lassen. Für noch mehr Nervenkitzel sorgen die mannigfaltigen Spielautomaten in der überdachten Adrenalinarena, die für jeden Geschmack etwas bereithalten.
Ob auf dem Motorrad oder im Helikopter, entdecken Sie das Abenteuer, seien Sie ein Held. Sie dürfen auch Menschen umbringen. Mit der Pistole oder dem Gewehr. Müssen Sie aber nicht. Wenn Sie möchten, können Sie auf Pyramiden aus Blechbüchsen werfen und Zahnpasta gewinnen oder zangend ein Plüschtier aus einem Käfig voller Plüschtiere befreien. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Zwei Lose zum Preis von einem. Kaufen Sie jetzt.
Harold und Melvin haben es sich außerhalb der Spielhölle gemütlich gemacht. Auf einer überdachten Holzbank mit Blick auf den Kanal. Die Wellen schlagen sanft gegen die Streben, von Ferne bimmelt ein Kinderkarussell, und der Wind weht kräftig aus Nordnordwest. Es riecht nach Meer und Popcorn, nach einer Welt, die nur sonntags geöffnet hat. Da es ausnahmsweise regnet, sind die Besucherzahlen übersichtlich. Hier und da streunen versprengte Rentner über die Planken, die Gesichter festgezurrt, als habe die Leichenstarre ein Trainingslager eingerichtet. Farbenfroh sind sie bekleidet, von mattgrau bis buttergelb, und noch bevor ihr Antlitz in Sichtweite das Auge betört, ist es der Geruch, welcher ihr Kommen unmissverständlich ankündigt. Echter Lavendel, von faulig bis modrig, guter Stoff, um Motten in den Wahnsinn zu treiben. Euphemistisch betrachtet ist damit der Siedepunkt des Amüsements erreicht, wie Melvin findet.
Harold ist dankbar. Er zerkaut den letzten Bissen seines John Dory und spült den unangenehmen Geschmack mit kaltem Tee hinunter. Er ist dankbar, dass der Pier einen recht stabilen Eindruck hinterlässt, dass die Bretter unter seinen Füßen Schutz vor dem tiefen Nass gewähren. Ganz sicher aber fühlt er sich nicht, er ist auf der Hut, man kann ja nie wissen. Es wäre ihm nicht recht, wenn eine Monsterwelle daherkäme und sie alle mit ins Meer risse. Harold hat bis heute nicht gelernt, wie man sich über Wasser hält. Schuld daran ist seine Phobie. Seine einzige. Und schuld daran ist Ethan Fowley.
Ethan Fowley war zu Schulzeiten Harolds bester Freund. Er kannte zwar dessen Namen nicht, wusste aber, dass er in die Parallelklasse ging. Sein Vater besaß ein kleines Programmkino in Kensington. So richtig mit Flöhen. Und da Harolds Mutter und Mrs. Fowley sich gar prächtig verstanden, beschlossen sie an einem lauwarmen Sommerabend, dass es doch eine prima Idee wäre, wenn Harold ein Wochenende bei den Fowleys übernachten würde und die beiden Jungs Jungsdinge machen könnten. Harold zog es vor, an einem
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