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Harold - Einzlkind: Harold

Harold - Einzlkind: Harold

Titel: Harold - Einzlkind: Harold Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Einzlkind
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geschwiegen werden, gleichwohl ihm das Schweigen stets große Bürde sei.
    Eine richtige Unterhaltung aber hat bisher nicht stattgefunden, nicht stattfinden können, da ständig Menschen an ihren Tisch kommen, die Jerry aufgrund des plötzlichen Ablebens seines Zwergkaninchens Marlene kondolieren. Marlene hatte aufgrund eines Tumors nur drei Beine und ein Auge, weshalb auch nicht aufgeklärt werden konnte, ob es sich bei dem Sturz vom Balkon um einen Unfall oder um einen Selbstmord handelte. Melvin versucht zu verstehen, warum ein verstorbenes Tier derart hemmungslose Mitleidsbekundungen hervorruft. Es war ein Tier. Noch dazu mit drei Beinen und nur einem Auge.
    Obwohl auch Harold das gemeine Haustier nie über Gebühr emotionalisiert, versteht er weit mehr die Bedeutung des Verlustes. Die Bekanntschaft mit diesem schwermütigen Gefühl hat er mit sieben gemacht. Mit Pling. Pling war aus dem Nest gefallen, im Garten der Familie, der zwei Hektar maß voll ungestümer Bäume, die zum hemmungslosen Nisten einluden. Pling war eine Blaumeise. Kaum größer als eine Walnuss und keineswegs flugbereit. Harold hätte sie nicht einmal bemerkt, hätte sie nicht freundlich, aber doch energisch auf ihre missliche Situation aufmerksam gemacht, indem sie tschilpte wie ein Tamburinchor. Er hatte nicht darüber nachgedacht, er hatte Pling einfach mitgenommen, es war mehr ein Reflex, eine Reaktion auf ein Geschehen. Er nahm ihn mit hoch auf sein Zimmer, besorgte Spezialfutter für die Aufzucht aus dem Nest gefallener Blaumeisen und fütterte ihn mehrmals täglich. Pling nahm Harold wie selbstverständlich als seine Mutter wahr, Größe und Aussehen spielten keine Rolle, die weiche Hand, auf die er hüpfte und die ständig kleine Köstlichkeiten barg, war Beweis genug. Pling aß mit solcher Hingabe, dass Harold ernsthaft in Betracht zog, Pling könne später mal ein Steinkopfadler werden oder ein Nilpferd. Mindestens. Doch dazu kam es nicht. Nach einer Woche machte Pling seine ersten viel versprechenden Flugversuche, wenngleich er regelmäßig gegen Fenster, Wände, Regale oder Bettpfosten flog und die Landung in guten Zeiten einem Steinschlag glich. Das Zimmer wurde allmählich zu klein und so entschied Harold, Pling an einem Montag in die Freiheit zu entlassen, in die große weite Welt, die zu erkunden war, die einen Platz für ihn hatte, zwischen all den anderen Blaumeisen und was sonst noch hin und her flog. Auch wenn Abschied nehmen eine schwere Prüfung zu sein schien, wie Harold von Clark Gable und Vivien Leigh erfahren hatte, aber es musste sein. Gleich nach dem Unterricht, in der Schule, die Harold missfiel, die jeden Tag seines Lebens zu einer epischen Tragödie machte und die nur erfunden wurde, um die bunten Blüten der Bosheit zu entfalten. Als Harold nach der letzten Doppelstunde Englisch wieder zurückkam, merkte er, dass etwas nicht stimmte. Kein Gezwitscher, kein Flügelschlag, kein Hallo. Pling lag auf dem Boden. Atemlos. Harold setzte sich neben ihn und schaute. Eine Stunde lang. Oder ein Jahr. Das war schwer zu sagen. Er hatte nicht einmal seinen Tornister abgelegt. Er hatte keinen Gedanken dafür. Er hörte nicht, als seine Mutter ihn zum Essen rief, er sah nicht, wie der Regen mit kleinen Nieseltropfen die Landschaft tränkte, und er fühlte nicht, wie sein Körper in kleinen Schüben fröstelte. Wie bei einer Erkältung, nur Schnupfen, Schnupfen hatte er gar nicht, auch keinen Husten, nicht einmal Halskratzen. Plings Augen waren auf, groß und ruhig, und zum ersten Mal sah Harold, dass sie braun waren, dass sie Fragen hatten und 10.000 Meilen weit sehen konnten. Dann berührte er Pling. Vorsichtig. Mit dem rechten Zeigefinger. Der weiche Brustkorb gab ein wenig nach und das flaumige Untergefieder schmiegte sich um seine Fingerkuppe. Keine Regung, nur Kälte, nicht wie im Winter, wenn er draußen Schneemänner bauen musste, ganz anders und ohne Vergleich, als habe es nie Wärme gegeben. Und zum ersten und einzigen Mal in seinem Leben sprach Harold zum lieben Gott und bat ihn, alles wieder gut zu machen, so wie gestern oder vorgestern, aber nicht so wie heute, denn Abschied nehmen gefiel ihm nicht, er hatte sich das einfacher vorgestellt. Doch der liebe Gott schien anderweitig beschäftigt zu sein, weshalb Harold nicht einsah, jemals wieder mit ihm zu sprechen.
    30
    »Den meisten Schwulis bin ich schon zu feminin«, sagt Jerry, der lacht, als würde man ihn mit einer frisch gerupften Gänsefeder foltern. Harold und

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