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Harold - Einzlkind: Harold

Harold - Einzlkind: Harold

Titel: Harold - Einzlkind: Harold Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Einzlkind
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Melvin starren ihn an, als sei Jerry ein Weltwunder, und wären sie Japaner, würden sie jetzt knipsen. Aber Melvin ist viel zu sehr damit beschäftigt, die Vorstellung, er sitze seinem leiblichen Vater gegenüber, mit aller Macht zu eliminieren. Und Harold versucht, sich wieder auf sein Rührei zu konzentrieren, das er bestellt hatte, das aber irgendwie ganz anders aussieht als die mattgelbe Pampe, die er gewohnt ist. Es sind die Kräuter, die ihn irritieren, einige sieht er zum ersten Mal in seinem Leben, sie sind, wie so vieles in letzter Zeit, neu, zu neu.
    »Also Schätzchen, was möchtest du wissen?« Melvin ist ob der Anrede wenig amüsiert, entschließt sich aber nicht zu insistieren, da in diesem Milieu der Hang zur Vertraulichkeit auffallend ausgeprägt scheint.
    »Wann genau wurden Sie homosexuell?«
    »An dem Tag, als meine Mutter schreiend in einem unvorteilhaft beleuchteten Kreißsaal lag und ich ihr Geschlechtsteil perforierte. Eine leichte Übung, wenn man 50 Zentimeter misst und dazu noch mit einem Wasserkopf gerüstet fulminant das Licht der Welt erblickt, oder?«
    »Sicher«, antwortet Melvin, der lustlos in seinem Früchtesorbet stochert und die ganze Angelegenheit so schnell wie möglich über die Bühne bringen will, »aber es gab doch sicher einmal ein ...«
    »Jerry!«
    »Wilbert!«
    »Jerry!«
    »Wilbert!«
    »Jeeeeeeeee!«
    »Wiiiiiiiiiiiii!«
    Jerry springt von seinem interstellaren Raumschiff auf und fällt Wilbert in die auffangbereiten Arme. Sie küssen sich auf Wange, Mund und Nase, streicheln einander den Rücken, die Arme, das Gesicht und hüpfen dazwischen wie unkontrollierbare Flummis umher.
    Harold ist überwältigt von der emotionalen Wucht dieser Begegnung. Jerry und Wilbert müssen sich seit Jahren, vielleicht seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen haben, Freunde, die sich aus den Augen verloren, Brüder, die ein tragisches Schicksal auseinanderriss, oder gar Liebende, die nun wieder zueinanderfinden. Harold ist durchaus berührt.
    »Wieso bist du gestern schon so früh gegangen?«, fragt Wilbert
    »Hach, die Migräne, Schätzchen, die Migräne. Ist denn noch was Aufregendes passiert?«
    »Robbie Williams ist beim Stagediven ertrunken.«
    »Aha.«
    »Wer sind denn die beiden Süßen hier?«
    »Oh, entschuldige, der hübsche Knabe hier ist Melvin, ein Jungjournalist, der mich interviewt, und der schneidige ältere Herr ist Mr. Wintersleep, eine Koryphäe auf dem Gebiet der südpersischen Literatur.«
    »Sehr erfreut«, sagt Wilbert und reicht die zierliche Hand zur Begrüßung. Wilbert ist mindestens zehn Jahre jünger als Jerry, seine feminine Aura wirkt noch nicht aufgepinselt, Engelslocken umschmeicheln sein römisches Gesicht und sein zarter Körper bewegt sich mit der Anmut einer ländlich gut gebuchten Ballerina. Er setzt sich unaufgefordert mit an den Tisch.
    »Wie geht’s deinem Mann?«, will Jerry wissen.
    »Martin? Gut. Wer war eigentlich die Schlampe, die sich gestern an ihn rangemacht hat?«
    »Der mit der Hakennase und dem indiskutabel sitzenden Prada-Anzug?«
    »Genau«.
    »David. So weit ich weiß aus London. Ein erfolgloser Modedesigner oder so.«
    Harold hat ein logisches Problem. Wenn die zweite Person der Mann der ersten Person ist und eine dritte Person als Schlampe bezeichnet wird, müssten mathematisch gesehen zwei der drei Personen weiblich sein. Aber weder Wilbert noch David sind Harold als Frauennamen ein Begriff. Melvin hingegen scheint keinerlei Interesse an der Unterhaltung zu finden und löffelt gedankenschwer in seinem Früchtesorbet umher.
    »Hast du Grace Pinkerton gesehen?«, fragt Wilbert.
    »War ja nicht zu übersehen. Wie sie sich ständig vorgebeugt hat, damit auch jeder ihr neues Dekolletee bewundern konnte.«
    »Und wie sie sich aufgeführt hat, nur weil sie drei Monate Directrice bei Hedi Slimane war.«
    »Als Praktikantin.«
    »Und wer war der Typ an ihrer Seite mit der 94er Liam-Gallagher-Gedächtnis-Frisur?«
    »Einer dieser Menschen, die von Velvet Underground nur die Platte mit der Banane haben und sich selbst als Musikkritiker bezeichnen.« Harold hat von Velvet Underground weder eine Platte mit einer Banane noch mit sonst einer Obstsorte. Dabei hat Harold viele Platten. Keine CDs. Richtige Schallplatten. Überwiegend Klassik. Es ist nicht so, dass ihm diese Musik besonders gefällt oder er die Virtuosität der Komponisten und Musikanten schätzt. Sie beruhigt ihn einfach. Die klassische Musik. An schweren Tagen legt er irgendeine

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