Harper Connelly 01 - Grabesstimmen-neu-ok-10.12.11
an einem Herzinfarkt«, sagte ich mit geschlossen Augen. »Er hieß Matthews
oder so ähnlich.«
Ein
Schweigen entstand, während Hollis die Inschrift auf dem Grabstein entzifferte.
»Ja«, brummte er. Dann schnappte er mühsam nach Luft. »Von hier aus ist es nur
noch ein kleines Stück zu Fuß. Lassen Sie die Augen geschlossen.« Ich spürte,
wie seine große Hand nach meiner griff und mich vorsichtig zu einem anderen
Grab führte. Ich horchte tief in mich hinein, mit diesem besonderen Sinn, der
mich noch nie enttäuscht hatte. »Ein sehr alter Mann.« Ich schüttelte den Kopf.
»Ich glaube, er ist einfach an Altersschwäche gestorben.«Ich wurde zu einem
weiteren Grab geführt, das ein Stückchen weiter weg lag. »Eine Frau um die
sechzig. Ein Autounfall. Sie hieß Turner, Turnage? Wahrscheinlich ein
Betrunkener.«
Wir nahmen
unseren ursprünglichen Weg wieder auf. An der Anspannung seines Körpers merkte
ich, dass wir nun zu dem Grab kamen, zu dem er eigentlich wollte. Als er mich
daraufführte, kniete ich mich hin. Das war ein gewaltsamer Tod, so viel wusste
ich sofort. Ich atmete tief durch und legte die Handflächen auf den Boden.
»Oh«, sagte ich laut. Weil Hollis so intensiv an die Tote dachte, tat ich mich
leichter, bis zu ihr vorzudringen. Ich konnte hören, wie Badewasser eingelassen
wurde. Im Haus war es heiß, das Fenster stand offen. Eine leichte Brise kam
durch die Milchglasscheiben des Bads herein. Plötzlich ... »Lass mich los!«,
rief sie, aber es war, als sei ich diese Frau, und ich rief die Worte
ebenfalls. Und dann war ihr/mein Kopf unter Wasser, und wir sahen zu der mit
Raufaser tapezierten Zimmerdecke hoch. Wir bekamen keine Luft mehr und
ertranken.
»Jemand hat
sie an den Knöcheln gepackt«, sagte ich und war wieder ganz in mir selbst; ich
lebte. »Irgendjemand hat sie unter Wasser gezogen.«
Nach einer
halben Ewigkeit machte ich die Augen wieder auf und sah auf den Grabstein vor
mir hinab. Sally Boxleitner, stand da. Die geliebte Ehefrau
von Hollis.
»Der
Gerichtsmediziner hat immer gesagt, er wisse es nicht. Ich habe sie obduzieren
lassen«, sagte der Hilfssheriff. »Die Ergebnisse waren nicht eindeutig. Sie
hätte in Ohnmacht gefallen und ertrunken sein können oder in der Wanne
eingeschlafen sein oder sonst was. Ich begriff einfach nicht, warum sie sich
nicht selbst rettete, wenn es tatsächlich so gewesen sein sollte. Aber es gab
keine Beweise für ein Verbrechen.«
Ich sah ihn
nur an. Trauernde können unberechenbar sein.
»Eine vaso-vagale Ohnmacht«, murmelte ich. »Vielleicht heißt es auch vagale Hemmung. Wenn sie plötzlich kommt, können sich die Leute nicht
mal mehr wehren.«
»Hatten Sie
es schon mal damit zu tun?« In seinen Augen standen Tränen, Tränen der Wut.
»Ich hatte
mit allem zu tun.«
»Irgendjemand
hat sie umgebracht.«
»Ja.«
»Aber Sie
können nicht sehen, wer.«
»Nein, das
sehe ich nicht. Ich sehe das Wie, wenn ich die Leiche finde. Und ich weiß, dass
Sie es nicht waren. Wenn Sie der Mörder wären und direkt neben dem Opfer
stehen, kann ich das unter Umständen spüren.« Eigentlich hatte ich das alles
gar nicht sagen wollen. Aus diesem Grund brauchte ich Tolliver als Sprachrohr.
Ich begann ihn zu vermissen, was mehr als lächerlich war. »Würden Sie mich
bitte zurück ins Motel bringen?«
Er nickte,
immer noch ganz in Gedanken. Wir begannen uns einen Weg zwischen den Gräbern
hindurchzubahnen. Wie bei unserer Ankunft schien die Sonne, und die Blätter
trudelten weiter über den gelblichen Rasen, aber der Tag besaß nichts mehr von
seinem vorherigen Glanz. Ich zitterte unmerklich, während ich barfuß durch das
kurze kühle Gras lief. Auf dem Weg zu Hollis' knallblauem Pick-up blieb ich
stehen, um den Namen auf dem größten Grabstein des Friedhofs zu lesen. Es gab
mindestens acht Gräber auf dem mit Teague markierten Feld.
Ich betrat
vorsichtig das Grab von Dell. Da lag er, nicht besonders tief in dem steinigen
Boden der Ozarks. Ich hielt kurz inne und dachte daran, dass der Kontakt mit
den einbalsamierten Toten glücklicherweise nie so dramatisch ist wie der mit
einer normalen Leiche. Hollis hätte mich nie so unterstützen können, wie es
sonst Tolliver tut, wenn es mir nicht gut geht. Ich spürte mit meinem
besonderen Sinn in die Tiefe und versuchte mir nicht schon im Vorfeld
vorzustellen, was ich finden würde, sobald meine mir von einem Blitz verliehene
Gabe den Leichnam von Dell erreichte.
Selbstmord?
Von wegen!, war meine
Weitere Kostenlose Bücher