Harper Connelly 01 - Grabesstimmen-neu-ok-10.12.11
und malte mit
meinem Zeigefinger Linien auf die Tischplatte. »Nach hinten raus gibt es eine
Tür zur Garage, so dass man seine Einkäufe direkt in die Küche tragen kann,
ohne nass zu werden. Und rechts von der Küche gibt es eine Terrasse, sehen Sie?
Vielleicht geht sie auch vom Wohnzimmer ab. Dort wird auch der Kamin sein, das
Kaminholz kann man auf der Terrasse stapeln. Dort steht auch ein Gasgrill, für
Steaks.«
»Und wer
lebt sonst noch in diesem Haus?«
Ich sah ihn
überrascht an. »Natürlich ...«, hob ich an und hielt gerade noch rechtzeitig
den Mund.
»Bestimmt
wird Ihr Bruder irgendwann mal heiraten?«, fragte Hollis sanft. Er sah mir in
die Augen. »Vielleicht wollen Sie ja selbst eines Tages heiraten. Und ein
bisschen weniger reisen.«
»Ja,
vielleicht«, sagte ich nach einer Weile. »Und was ist mit Ihnen?«
»Ich werde
hierbleiben«, sagte er beinahe traurig. »Vielleicht versuche ich es irgendwann
mal wieder mit einer festen Beziehung, wer weiß? Seit Sally tot ist, bin ich
einfach nicht mehr der Alte. Und bevor ich Sally kennenlernte, war ich schon
mal kurze Zeit verheiratet, damals war ich fast noch ein Kind. Es könnte
schwierig werden, eine Frau zu finden, die bei mir bleiben will.«
»Das glaube
ich nicht«, meinte ich. Manche Frauen würden bei Hollis zwar lieber auf Abstand
gehen, aber es war schließlich nicht sein Fehler, dass seine zweite Frau
ermordet worden war. »Verheiratet zu sein ... war das gut? Ständig mit jemandem
zusammenzuleben?«
Er starrte
nachdenklich in sein Bier und sah dann mich an.
»Das erste
Mal war ich zwei Monate lang im siebten Himmel. Danach war es die Hölle«, sagte
er, während sich seine Lippen zu einem ironischen Lächeln kräuselten. »Das war
ein Riesenfehler. Aber sie war genauso scharf darauf, diesen Fehler zu begehen,
wie ich. Wir begehrten uns dermaßen, dass wir kaum noch schlafen konnten. Als
wir dann heirateten, war das für uns in erster Linie ein Freibrief zum Vögeln.
Und wie wir gevögelt haben! Wir begriffen nicht, dass es um viel mehr geht.
Leider sollten wir das sehr bald herausfinden. Als wir uns trennten, wussten
wir nicht, wer von uns beiden erleichterter war.«
Nachdem er
fragend eine Braue gehoben hatte, holte er uns noch ein Bier. »Sally war
anders«, sagte er. »Sie war genauso süß, wie ihre Mutter und ihre Schwester
wild waren. Sie wollte da weg, fühlte sich aber für ihre Schwester
verantwortlich, weil ihre Mutter eine solche Säuferin war. Dann hat sich Helen
zusammengerissen und wurde trocken.« Er schüttelte den Kopf. »Jetzt, wo sie tot
sind, spielt das auch keine Rolle mehr. Helen hätte genauso gut weitertrinken
können.«
»Ist der
Autopsiebericht von Teenie schon da?«, fragte ich.
Sein Gesicht
nahm einen misstrauischen Ausdruck an. »Darüber darf ich mit Ihnen nicht
sprechen.« Er sah mich lange an. »Warum?«
Es war nicht
meine Aufgabe, das Geheimnis des toten Pärchens zu lüften. Plötzlich fragte ich
mich, was mich das eigentlich alles anging. Ich fand Leichen und zog
anschließend weiter. Die Menschen sterben immer, die einen im Bett, die anderen
im Wald oder mit einer Waffe im Mund. Das Ergebnis ist und bleibt dasselbe.
Warum war es diesmal anders?
»Welcher
Fall war der schlimmste, den Sie je hatten?«, fragte mich Hollis aus heiterem
Himmel.
Ob ihn wohl
mein Gesichtsausdruck zu dieser Frage veranlasst hatte? »Oh, der mit dem Tornado«,
sagte ich, ohne groß nachdenken zu müssen.
»Wo war
dieser Tornado?«
»In Texas.
Er ist genau die Hauptstraße dieses kleinen Städtchens entlanggewirbelt. Ich
weiß nicht mehr, ob vorher die Alarmsirene losging, oder ob er so plötzlich
aufzog, dass dafür keine Zeit mehr blieb. Aus irgendeinem Grund rannte diese
Frau namens Molly Mathers aus ihrem Laden zum Auto. Sie hatte ihr Baby dabei,
in einem von diesen Plastikdingern mit Griff. So ein kleines, süßes Ding.«
»Der Sturm
hat das Baby mitgenommen?«
Ich nickte.
»Er hat Molly die Babytrage einfach aus der Hand gerissen.«
Wir
schwiegen einen Moment.
»Natürlich
hat niemand erwartet, dass das Baby überlebt haben könnte, aber die Mutter
glaubte felsenfest, das Baby befände sich immer noch in der Trage, vielleicht
in irgendeinem Feld, und hätte Hunger.« Ich sagte das so unbeteiligt wie
möglich, aber es war eine furchtbare Erinnerung, die ich da mit mir
herumschleppte.
»Haben Sie
das Baby gefunden?«
Ich nickte
mit zusammengepressten Lippen.
»Tot?«
»Natürlich.
In einer Baumkrone. Es lag
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