Harper Connelly 01 - Grabesstimmen-neu-ok-10.12.11
Iona und Hank beeilt, die
arme Mariella und die kleine Gracie zu retten. Natürlich unter großem
Medienrummel, und nicht ohne zu beteuern, sie hätten ja keine Ahnung gehabt,
wie schlimm es um meine Mutter bestellt war.
Nachdem sie
zwei Monate bei Iona und Hank gelebt hatten, betrachteten uns unsere kleinen
Schwestern nicht mehr als ihre Retter und Beschützer, sondern reagierten so,
als hätten wir die Pest.
Von den
vielen schmerzhaften Erfahrungen aus dieser Zeit, war die an Gracie, die
schrie: »Ich will euch nie wieder sehen!«, die schlimmste.
»Das kann
nicht an ihnen liegen«, sagte ich bestimmt zum hundertsten Mal zu Tolliver,
während uns der Gestank nach Frittieröl umgab. »Sie haben uns geliebt.« Er
nickte, wie jedes Mal, wenn ich wieder davon anfing.
»Iona und
Hank haben ihnen eingeredet, dass wir etwas mit den prekären Verhältnissen in
unserem damaligen Haushalt zu tun hatten«, sagte er.
»Haushalt,
dass ich nicht lache!« Und wieder stieg jene Bitterkeit in mir auf, die mich so
oft von anderen Menschen trennte.
»Deine
Mutter ist inzwischen tot«, sagte er leise. »Und mein Vater ist es vielleicht
auch.«
»Ich weiß,
ich weiß. Tut mir leid.« Ich wedelte mit einer Hand vor meinem Gesicht herum,
um die Wut zu vertreiben. »Ich kann nur hoffen, dass die Mädels eines Tages alt
genug sein werden, um zu verstehen.«
»Es wird nie
mehr so werden wie früher.« Tolliver war mein Orakel. Er sprach aus, was ich
nicht einmal zu denken wagte. Und er hatte recht.
»Wahrscheinlich
nicht. Aber eines Tages werden sie eine Schwester und einen Bruder brauchen.
Und dann werden sie uns anrufen.«
Er beugte
sich wieder über sein Essen. »Manchmal hoffe ich, dass sie es nicht tun«, sagte
er leise, und ich wusste nicht, was ich darauf antworten konnte.
Aber ich
verstand, was er meinte. Im Moment waren wir niemandem Rechenschaft schuldig.
Wir hatten keinerlei Verpflichtungen, wir hatten bloß uns. Nachdem wir
jahrelang verzweifelt versucht hatten, die Familienfassade aufrechtzuerhalten, war
es beinahe wohltuend, wenn nicht sogar tröstlich, dass wir nur noch auf uns
selbst aufpassen mussten.
Hollis
setzte sich zu uns, in einer Hand hielt er eine Tüte mit Essen. »Ich hoffe, ich
störe nicht«, sagte er. »Ich bin zum Drive-in-Schalter gefahren, und da habe
ich euch hier sitzen sehen. Ihr schaut so ernst aus.«
Tolliver
warf dem Polizisten einen bösen Blick zu. Hollis trug Uniform. Er sah gut darin
aus. Ich sah lächelnd auf die Reste meiner Mahlzeit hinunter.
»Wir würden
gerne abreisen«, sagte Tolliver. »Aber wir können hier nicht weg, bis uns der
Sheriff grünes Licht gibt.«
»Was ist im Bestattungsinstitut passiert?« Hollis tat gut daran, Tolliver zu
ignorieren.
Ich erzählte
ihm, dass Helen von jemandem ermordet worden war, den sie kannte und dem sie
vertraute, was leider auch keine neue Erkenntnis war. Ihr kleines Haus hatte so
ordentlich ausgesehen, wie es an einem Tatort nur aussehen konnte. Niemand war
eingebrochen. Niemand hatte die Zimmer durchwühlt.
»Jemand mit
langen Ärmeln, aber niemand in Uniform.« So viel wusste ich.
»Mehr hast
du nicht herausbekommen?«
»Nein, aber
ich habe Helens Seele erlöst«, hätte ich am liebsten geantwortet. Aber manche
Dinge bleiben lieber ungesagt und ganz besonders dieser Satz. »Sag mal,
Hollis... soweit ich weiß, hatte Helen eine einstweilige Verfügung gegen ihren
ersten Mann Jay erwirkt. Stimmt das?«
»Ja, Jay war
Alkoholiker, genau wie Helen, zumindest damals. Bei meiner Hochzeit mit Sally
war er auf jeden Fall betrunken. Mein Onkel musste ihn aus der Kirche führen,
weil er laut wurde. Der armen Sally war das unheimlich peinlich.« Hollis
schüttelte bei der Erinnerung daran den Kopf. »Soweit ich weiß, ist er wieder
in der Stadt. Anscheinend hat Helen ein Testament gemacht. Jay erbt das Haus
und Helens wenige Ersparnisse.«
»Aber warum
hinterlässt Helen alles einem Mann, der sie so misshandelt hat?« Das wollte so
gar nicht zu der Helen Hopkins passen, die ich, wenn auch nur kurz,
kennengelernt hatte.
Hollis
räusperte sich. »Na ja, wahrscheinlich weil sie ihm dankbar dafür war, dass er
Teenie als seine Tochter anerkannt hat.«
»Und niemand
weiß, wer Teenies Vater war?«
»Nein, aber
rein theoretisch könnte es auch Jay gewesen sein. Sie haben jedoch nie einen
DNA-Test machen lassen. Jay hat sich stets so verhalten, als sei sie seine
Tochter, und Helen hat ihn als Vater eingetragen, also...«
»Aber
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