Harper Connelly 03 - Ein eiskaltes Grab-neu-ok-14.12.11
denen sie rein auf Verdacht arbeitete
und die ihr geholfen hatten, ihren (wenn auch betrügerischen) Lebensunterhalt
zu sichern, schienen immer kürzer und seltener zu werden.
Was wohl
Manfred machte, wenn sie nicht mehr war? Er war jung, und noch standen ihm alle
Möglichkeiten offen. Er konnte aufs College gehen und sich einen ganz normalen
Job suchen. Er konnte eine Zirkusausbildung machen. Er konnte von der Hand in
den Mund leben und die auf kleinen Betrügereien beruhende Existenz
weiterführen, die Xylda ihm vorgelebt hatte. Doch jetzt war weder der rechte
Zeitpunkt noch der rechte Ort, ihn nach seinen Zukunftsplänen zu fragen, da
diejenige, die ihn daran hinderte, neben mir saß und ihre Bluse mit
Salatdressing bekleckerte.
Xylda sagte:
»Aus diesem Jungen wird noch mal ein Mörder.« Zum Glück sprach sie relativ
leise. Ich wusste gleich, dass sie Chuck Almand meinte.
Auch so ein
junger Mann, dem noch alle Möglichkeiten offenstanden. »Aber sicher wissen wir
das nicht. Noch kann er sich retten. Vielleicht findet sein Vater einen guten
Therapeuten, der seinen seelischen Abgründen zuleibe rückt.« Ich glaubte nicht
daran, wollte aber immerhin die Möglichkeit einräumen.
Manfred
schüttelte den Kopf. »Ich kann es kaum fassen, dass er nicht verhaftet wurde.«
»Er ist noch
minderjährig«, sagte Tolliver. »Und es gibt keine belastenden Zeugenaussagen,
nur das, was er selbst zugegeben hat. Meiner Meinung nach würde ihm das
Gefängnis auch nicht helfen. Im Gegenteil. Vielleicht würde er dort nur
feststellen, wie viel Spaß es macht, andere zu quälen.«
»Im
Gefängnis stünde er sicherlich ganz unten in der Hackordnung«, sagte ich. »Man
würde ihm dort bestimmt ziemlich wehtun, und dann kommt er raus und will sich
doppelt und dreifach rächen.«
Wir hingen
unseren Gedanken nach. Die Kellnerin eilte herbei, um unsere Bestellungen
aufzunehmen und Manfred und Xylda zu fragen, ob sie noch etwas zu trinken
wollten. Sie nahmen das Angebot beide dankend an, und es dauerte ein paar
Minuten, bis wir unsere Unterhaltung fortsetzen konnten.
»Ob es wohl
in jedem Bezirk ein solches Kind gibt?«, überlegte Tolliver laut. »Eines, das
Spaß daran hat, anderen Schmerzen zuzufügen und Macht über Schwächere zu
haben?«
»Gab es denn
so jemanden in unserer Schule in Texarkana?«, fragte ich überrascht.
»Ja, Leon Stripes. Erinnerst du dich noch an ihn?«
Leon war
schon in der sechsten Klasse 1,82 m gewesen. Leon war
schwarz, Mitglied des Footballteams und machte den gegnerischen Mannschaften
eine Heidenangst. Wahrscheinlich auch der eigenen Mannschaft.
Ich erzählte
Xylda und Manfred von Leon. »Und er hat anderen gern Schmerzen zugefügt?«
»O ja«,
sagte Tolliver grimmig. »Und ob. Er nahm Leute ohne jeden Grund in den
Schwitzkasten, nur um sie nach Luft japsen zu hören.«
Ich bekam
eine Gänsehaut vor lauter Abscheu. Mit einer Hand machte ich meinen Geldbeutel
auf und zog mein Fläschchen mit den Vitamintabletten heraus. Ich schob es
Tolliver hin. Dieser öffnete den kindersicheren Verschluss und holte eine
heraus. Ich nahm sie ein.
»Im Ernst,
wie geht es dir?«, fragte Manfred. »Tut der Arm sehr weh?«
Ich zuckte
die Achseln. »Die Schmerzmittel wirken ziemlich gut. Ich fürchte, ich werde
während des Gedenkgottesdienstes einschlafen.«
»Es wird dir
schon bald viel besser gehen«, sagte Xylda, und ich fragte mich, ob dieser Satz
hellseherischen Fähigkeiten oder einfach nur ihrem unverbesserlichen Optimismus
geschuldet war.
»Und was ist
mir dir, Xylda?« Ich sah sie neugierig an. »Warst du letzten Monat nicht im
Krankenhaus?« Es gibt ein Internetforum für Leute wie uns, die auf dem Gebiet
der paranormalen Phänomene tätig sind. Ich schaue dort von Zeit zu Zeit rein.
»Ja«, sagte
sie, »aber das Krankenhaus ist Gift für meine Seele. Zu viele negative
Schwingungen. Zu viele verzweifelte Menschen. Ich werde nicht dorthin
zurückgehen.«
Ich wollte
schon protestieren, nahm aber den warnenden Blick wahr, den mir Manfred zuwarf.
»Das kann
ich gut verstehen«, sagte Tolliver. »Harper zieht
bereits einen ganzen Kometenschweif an negativen Schwingungen hinter sich her,
dabei war sie nur wenige Tage dort.«
Hätte ich
die Kraft dazu gehabt - ich hätte ihn gegen das Schienbein getreten. Ich
streckte ihm die Zunge heraus.
Tolliver und
Manfred redeten während des Essens über gefahrene Kilometer, während Xylda und
ich unseren eigenen Gedanken nachhingen. Als Tolliver auf die Toilette
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