Harper Connelly 03 - Ein eiskaltes Grab-neu-ok-14.12.11
bescherte, führte zu keiner Eingebung. Ich beschloss, lieber zu
schweigen, und blickte über die vielen Köpfe in den Kirchenbänken hinweg. Die Mount Ida Church war innen größer,
als man dies von außen vermuten würde. Die Kirchenbänke waren blank poliert,
und auch der Teppich war neu. Vor dem Altar standen Staffeleien mit
vergrößerten Fotos der Jungen, zu Füßen einer jeden lag ein Blumenstrauß. Ich
wäre gern dorthin gegangen und hätte sie mir angesehen, da ich auf meine Art
mit jedem dieser jungen Männer in Kontakt gekommen war, aber das wäre
unhöflich, ja vermessen gewesen.
In einer der
vorderen Bänke wimmelte es von Polizisten in Uniform. Ich erkannte Sheriff Rockwell an ihrer Frisur und glaubte auch
Hilfssheriff Rob Tidmarsh zu entdecken, der die
Tiergräber gefunden hatte.
Irgendwie
waren uns die Bernardos zuvorgekommen. Ein paar Bänke weiter erhaschte ich
einen Blick auf Xyldas nicht zu bändigenden roten Haarschopf sowie auf Manfreds
platinblonde Stachelfrisur rechts daneben. Von hinten fielen die beiden gar
nicht besonders auf. Viele hier hatten gefärbte Haare und gegelte Igelfrisuren.
Tolliver kam
herein, das Gesicht von der Kälte gerötet. Er steckte eine Zwanzigdollarnote in
den Schlitz. Er war überrascht, mich neben Twyla zu finden, beugte sich aber
vor, um ihr die Hand zu geben und ihr noch mal sein Beileid auszusprechen. »Wir
wissen es sehr zu schätzen, dass Sie uns Ihr Bootshaus zur Verfügung stellen.
Es ist wirklich ein tolles Gefühl, eine eigene Unterkunft zu haben.« Ich war
gar nicht auf die Idee gekommen, mich dafür zu bedanken, und ärgerte mich über
mich selbst.
»Es tut mir
sehr leid, dass Harper verletzt wurde«, sagte Twyla.
Als ich feststellte, dass ich nicht die Einzige war, die etwas Wichtiges
vergessen hatte, ging es mir schlagartig besser. »Ich hoffe, derjenige, der das
getan hat, wird gefasst, und ich bin mir sicher, dass es derselbe Mistkerl war,
der unseren Jeff ermordet hat. Aber ich habe noch etwas vergessen«, sagte sie
und drückte mir einen Scheck in die Hand. Ich nickte und steckte ihn in
Tollivers Brusttasche. Dann liefen wir den Mittelgang hinunter, um einen
Sitzplatz zu ergattern.
Wir blieben
vor einer Bank stehen, in deren Mitte noch ein paar Plätze frei waren, und als
die Sitzenden meinen Gips sahen, waren sie so nett aufzurutschen, damit wir uns
an den Rand setzen konnten. Ich bedankte mich wiederholt. Es tat gut, sich
neben Tolliver auf das weiche Polster sinken zu lassen. Wir saßen weit genug
von der Tür entfernt, um nicht unter dem kalten Luftzug zu leiden, der mit
jedem Neuankömmling hereinkam.
Langsam
erstarb das Gemurmel, und die Gemeinde schwieg. Die Türen öffneten und
schlössen sich nicht mehr. Pfarrer Garland kam heraus, er wirkte sehr jung und
irgendwie liebenswert. Aber seine Stimme klang alles andere als liebenswert
oder friedlich, als er die Bibelstellen ankündigte, die er für diesen Anlass
ausgewählt hatte. Er habe eine Passage aus dem Buch des Predigers Salomo
herausgesucht, sagte er und begann zu lesen. »Alles hat seine Zeit...«, hob er
an.
Um mich
herum nickten alle mit dem Kopf, während Tolliver und ich diese Bibelstelle
natürlich nicht kannten. Wir hörten aufmerksam zu. Wollte er damit sagen, es
sei an der Zeit gewesen, dass diese Jungen starben? Nein, vielleicht lag die
Betonung auf »Klagen hat seine Zeit«. Damit war selbstverständlich die
Gegenwart gemeint. Anschließend las er aus dem Römerbrief vor. Der rote Faden,
der die einzelnen Stellen miteinander verband, war die Mahnung, rechtschaffen
zu bleiben, in einer Welt ohne Rechtschaffenheit. Die Stellen klangen
unheimlich passend.
Zu
behaupten, die Gemeinde habe die Morde gelassen hinzunehmen, war nicht möglich,
genauso wenig wie die Aufforderung, die Einwohner von Doraville sollten auch
die andere Wange hinhalten. Es war schließlich nicht die Wange der Einwohner
gewesen, die geschlagen worden war. Man hatte ihnen ihre Kinder genommen. Dass
weitere Kinder geopfert würden, kam nicht infrage, egal, wie viel noch aus der
Bibel vorgelesen wurde.
Nein, Doak
Garland war schlauer, als er aussah. Er sagte den Leuten von Doraville, dass
sie weiterhin auf Gott vertrauen sollten, um über diese schwere Zeit
hinwegzukommen, und dass Gott ihnen bei dieser schwierigen Aufgabe helfen
würde. Dagegen konnte niemand etwas sagen. Nicht hier, nicht an diesem Abend.
Nicht angesichts der Fotos, die die Gemeinde anstarrten. Noch während ich sie
ansah, stellte ein
Weitere Kostenlose Bücher