Harper Connelly 03 - Ein eiskaltes Grab-neu-ok-14.12.11
ging,
und Manfred ihre Rechnung zahlen gegangen war, sagte sie: »Ich werde bald
sterben.«
Die
Schmerzmittel hatten eine so starke Wirkung, dass ich das relativ gelassen
hinnahm. »Es tut mir sehr leid, dass du damit rechnest«, sagte ich, womit ich
mich vermutlich immer noch auf der sicheren Seite befand. »Hast du Angst?«
»Nein«,
sagte sie nach kurzem Nachdenken. »Ich glaube nicht. Ich habe mein Leben
genossen und versucht, es gut zu leben. Ich habe nie Geld von Leuten genommen,
die es sich nicht leisten konnten, und ich habe meine Tochter und meinen Enkel
geliebt. Ich glaube, meine Seele wird in einen anderen Körper fahren. Ich finde
es sehr tröstlich zu wissen, dass das, was mich ausmacht, nicht sterben wird.«
»Das kann
ich mir vorstellen«, erwiderte ich, ohne recht zu wissen, wie ich dieses
Gespräch beenden sollte.
»Du wirst
auf alle deine Fragen eine Antwort bekommen«, sagte sie. »Meine hellseherische
Gabe funktioniert immer besser, je näher ich dem Ende komme.«
Dann sagte
ich etwas, das mich sogar selbst überraschte. »Werde ich meine Schwester
finden, Xylda? Werde ich Cameron finden? Sie ist tot,
stimmt's?«
»Du wirst Cameron finden«, sagte Xylda.
Ich senkte
den Kopf.
»Ich weiß
nicht«, sagte Xylda nach einer längeren Pause, und ich hob meinen Kopf wieder
und starrte sie fragend an. Manfred kehrte an den Tisch zurück, um ein
Trinkgeld dazulassen. Tolliver stand am Kassentresen an. Es herrschte eine
merkwürdige Stimmung. »Aber es gibt Wichtigeres, das du zuerst erledigen
musst«, fuhr Xylda fort.
Ich verstand
nicht, was wichtiger sein konnte, als die Leiche meiner Schwester zu finden.
Ich versuchte mich mühsam in meinen Mantel zu schälen, während Xylda nach
draußen eilte. Manfred half meinem rechten Arm in den richtigen Ärmel und legte
mir den Mantel über die linke Schulter. Er beugte sich leicht vor und küsste
mich auf den Hals. Er tat das wie nebenbei, sodass es mir lächerlich vorkam,
deswegen viel Aufhebens zu veranstalten. Doch dann sah ich das Gesicht von
Tolliver, dem dieser Kuss nicht entgangen war. Und Tolliver war wild
entschlossen, ein großes Tamtam zu veranstalten. Deshalb griff ich mit meiner
guten Hand nach seinem Arm und begann zur Tür zu gehen. Er war gezwungen, mich
zu begleiten.
»Das war
völlig harmlos«, sagte ich. »Ich habe mir nicht das Geringste dabei gedacht.
Für mich ist er einfach nur ein junger Mann mit einer kranken Großmutter.« Ich
wusste nicht, ob das irgendeinen Sinn ergab, aber die Worte sprudelten nur so
aus mir heraus. »Wir gehen jetzt zu diesem Gottesdienst. Los, sonst kommen wir
zu spät.«
Irgendwie
landeten wir im richtigen Wagen, und Tolliver ließ den Motor an, um die
ersehnte Heizung anzuwerfen. Er legte mir mit einer unnötig heftigen Geste den
Sicherheitsgurt an, und ich schrie auf, so sehr tat mir mein Arm weh.
»Es tut mir
leid«, sagte er alles andere als überzeugend. »Der Kerl geht mir einfach auf
die Nerven. Ständig baggert er dich an. Und dann dieses ganze Zeug in seinem
Gesicht und sonst noch wo! Er kann es immer kaum erwarten, dich zu
begrapschen.«
Anstatt zu
schweigen und darauf zu warten, dass er sich beruhigte, was sicherlich besser
gewesen wäre, sagte ich: »Darf mich denn niemand mögen?«
»Natürlich.
Aber nicht er!«
Wäre es
Tolliver lieber, wenn ich mich mit Barney Simpson oder Doak Garland
zusammentat? »Warum nicht?«
Eine lange
Pause entstand, in der Tolliver verzweifelt nach einer Antwort suchte. »Weil,
na ja, weil er wirklich Chancen bei dir hätte«, sagte er. »Für andere gilt das
nicht, weil wir immer unterwegs sind und du sie nie wiedersehen wirst. Aber er
hat Verständnis für diese Art Leben und ist selbst mit Xylda unterwegs.«
Ich machte
den Mund auf und wollte schon sagen, Du willst also nicht, dass ich einen
Freund habe? Aber irgendetwas ließ mich verstummen. Kein Wort kam über
meine Lippen. Tolliver war deutlicher geworden, als ich es je von ihm erwartet
hätte, und ich hatte Angst, das Thema zu vertiefen.
»Er ist
jünger als ich.« Irgendwas musste ich ja sagen.
»Aber nicht
zu jung«, erwiderte mein Bruder. Mir fiel auf, dass er anfing, Manfred zu
verteidigen, und ich unterdrückte ein Grinsen. Die Schmerztablette, die ich in
der Hütte genommen hatte, entfaltete gerade ihre volle Wirkung. Ich spürte eine
wohlige Wärme und hätte die ganze Welt umarmen können. Wenn ich jemals nach
etwas süchtig werde, dann nach Schmerztabletten. Aber ich hatte nicht vor,
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