Harper Connelly 04 - Grabeshauch
schluckte ihn hinunter.
Es schmeckte nicht so gut wie sonst, aber das lag vermutlich nicht am Koch, sondern an Mark.
Der schüttelte den Kopf und starrte in seinen Teller. Dann sah er auf und schaute erst Tolliver und dann mich an. »Keine Ahnung,
wie ihr das macht«, sagte er. »Wenn Dad etwas von mir will, muss ich darauf reagieren. Er ist mein Vater. Wenn meine Mutter
noch lebte, wäre es genauso.«
»Wahrscheinlich sind wir einfach nicht so gut wie du, Mark«, sagte ich. Was sollte ich auch sonst sagen?
Er wird dich ausquetschen und aussaugen. Er wird seine Versprechen und dir das Herz brechen.
»Ich nehme nicht an, dass ihr seit unserem letzten Gespräch was von der Polizei gehört habt?«, fragte Mark. »Oder von dieser
Detektivin?«
»Du schreckst ja heute vor keinem heiklen Thema zurück,Mark«, meinte ich und musste mich schwer beherrschen, höflich zu bleiben.
»Ich muss euch das fragen. Irgendwann muss es doch Neuigkeiten geben.«
Ich ließ meinen Ärger sausen, denn manchmal denke ich dasselbe. »Es gibt keine Neuigkeiten. Eines Tages werde ich sie finden.«
Das sage ich bereits seit Jahren, doch noch war es nicht dazu gekommen. Aber eines Tages, und zwar dann, wenn ich es am wenigsten
erwartete – obwohl ich es eigentlich ständig erwartete –, würde ich ihre Nähe spüren, so wie ich die Nähe unzähliger anderer Toter gespürt hatte. Ich würde Cameron finden, und dann
würde ich wissen, was ihr an jenem Tag zugestoßen war.
Sie war allein nach Hause gegangen, nachdem sie geholfen hatte, die Highschool für den Abschlussball zu dekorieren. Ich war
damals in ein Kind verwandelt worden, für das so etwas nicht mehr infrage kam. Daran war der Blitzschlag schuld. Ich musste
mich nach wie vor an mein neues Ich gewöhnen und hatte eine Riesenangst vor meiner neuen, seltsamen Gabe. Ich musste mich
noch von den körperlichen Folgen erholen. Ich humpelte und wurde schnell müde. An jenem Tag hatte ich wieder eine meiner furchtbaren
Migräneattacken gehabt.
Es war Frühling gewesen, und wir erlebten gerade einen Kälteeinbruch. In der Nacht davor war die Temperatur auf unter vier
Grad gefallen. An jenem Nachmittag hatte es nur fünfzehn Grad gehabt. Cameron hatte schwarze Strumpfhosen, einen schwarz-weiß
karierten Schottenrock und einen weißen Rolli getragen. Sie sah toll aus. Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass sie dieses
Outfit aus der Altkleidersammlung hatte. Ihr blondes langes Haar glänzte. Meine Schwester Cameron hatte Sommersprossen. Sie
hasste sie. Und sie schrieb nur gute Noten.
Während sich Mark und Tolliver unterhielten, versuchte ich mir vorzustellen, wie Cameron jetzt wohl aussah. Wäre sie noch
blond? Hätte sie zugenommen? Sie war klein gewesen, kleiner als ich, hatte dünne Arme und Beine und einen eisernen Willen
gehabt. Sie war eine gute Leichtathletin gewesen, aber als sie eine Zeitung nach ihrem Verschwinden einen »Leichtathletikstar«
genannt hatte, hatten wir nur die Augen verdreht.
Meine Schwester war keine Heilige gewesen. Ich hatte Cameron besser gekannt als alle anderen. Sie war stolz. Sie konnte ein
Geheimnis bewahren, bis es nicht mehr anders ging. Sie war klug und lernte fleißig. Manchmal hasste sie unsere Situation,
den Verlust unseres Wohlstands, so sehr, dass sie laut schrie. Sie hasste unsere Mutter Laurel. Sie hasste sie leidenschaftlich
dafür, uns mit in die Tiefe gerissen zu haben. Gleichzeitig liebte Cameron unsere Mutter.
Matthew, Mutters zweiten Mann, aber x-ten »Freund«, konnte sie nicht ausstehen. Cameron hing der Illusion an, dass unser Vater
eines Tages wieder er selbst würde – zu dem Menschen, der er vor seiner Drogensucht gewesen war. Sie glaubte, dass er eines
Tages vor dem heruntergekommenen Wohnwagen stehen und uns mitnehmen würde. Dann würden wir wieder in einem richtigen Haus
leben, und andere würden unsere Kleider waschen und das Essen kochen. Unser Vater würde zu Lehrersprechstunden kommen und
am Abendbrottisch mit uns besprechen, auf welches College wir gehen könnten.
Das war Camerons Fantasie, ihre positive Fantasie. Sie hatte auch düstere Fantasien, ziemlich düstere. Eines Morgens erzählte
sie mir auf dem Schulweg, dass sie sich ausgemalt habe, einer der Dealer unserer Mutter würde in unserer Abwesenheit vor dem
Wohnwagen auftauchen, unsere Mutter und unseren Stiefvater umbringen. Anschließend würdenwir zu einer netten Pflegefamilie kommen, nach der
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