Harper Connelly 04 - Grabeshauch
und dem Eiswürfelspender aufging. Ein Paar,
das gerade die Treppen hochkam, musterte uns neugierig. Als es mein blutiges Erscheinungsbild verinnerlicht hatte, eilte es
schnell auf sein Zimmer.
»Das ist schon in Ordnung«, sagte Matthew. »Ich habe den Schuss gehört, und dann hast du geschrieen. Ich bin verdammt schnell
über diesen Parkplatz gerannt.« Er lachte.
Mir war gar nicht klar gewesen, dass ich geschrieen hatte.
»Hast du irgendjemanden auf dem Parkplatz gesehen?«
»Nein. Und das macht mich echt wahnsinnig, weil der Schütze ganz in der Nähe gewesen sein muss.«
Ich hob mir den Gedanken für später auf. »Ich nehme an, wir sehen uns morgen im Krankenhaus, falls du dir freinehmen kannst«,
sagte ich. Plötzlich wollte ich nur noch allein sein.
»Soll ich Iona anrufen?«, fragte Matthew.
Als ich »Nein!« sagte, lachte er ein ersticktes Lachen, wobei er sich kurz anhörte wie Tolliver.
»Bitte nimm es mir nicht übel, wenn ich das sage, aber du bist sehr abhängig von meinem Sohn«, meinte Matthew. Damittraf er dermaßen ins Schwarze, dass ich sofort wütend wurde.
»Dein Sohn ist mein Geliebter und meine Familie«, sagte ich. »Wir sind schon seit Jahren zusammen. Seit du weg bist.«
»Aber du solltest auch allein zurechtkommen können«, sagte Matthew im selbstgerechten Ton eines Menschen, der eine Therapie
hinter sich hat. Weil er sich bemühte, freundlich zu klingen, wurde ich erst recht wütend. Ich bin vielleicht kein Feld-Wald-und-Wiesentyp,
aber so zerbrechlich, wie ich aussehe, bin ich auch wieder nicht. Na gut, vielleicht doch, aber wenn, ging das Matthew Lang
nicht das Geringste an.
»Ich glaube nicht, dass du das Recht hast, mir zu sagen, wie ich leben soll. Wie ich sein sollte«, erwiderte ich. »Du hast
nicht über mich zu bestimmen. Früher nicht und jetzt auch nicht. Ich weiß deine heutige Hilfe sehr zu schätzen. Ich freue
mich, dass du endlich etwas für deinen Sohn tust, auch wenn er dafür erst angeschossen werden musste. Aber jetzt musst du
gehen, denn ich möchte duschen.« Ich benutzte die Schlüsselkarte, und die Tür zu meinem neuen Zimmer sprang auf. Die Lampen
brannten, und im Raum war es warm. Unser Gepäck stand neben dem Bett.
Matthew nickte mir zu und ging ohne ein weiteres Wort, worüber ich sehr froh war. Ich betrachtete Tollivers Koffer und begann
zu weinen. Aber dann zwang ich mich, ins Bad zu gehen und meine blutbesudelten Kleider auszuziehen. Ich badete ausgiebig,
verarztete meine Schnittwunden und Schrammen. Dann zog ich meinen Schlafanzug an.
Ich rief noch mal im Krankenhaus an und erfuhr, dass es Tolliver unverändert ging. Ich ermahnte die Schwestern, mich sofort
zu verständigen, wenn sich irgendetwas änderte. Ich lud das Handy auf, legte mich ins Bett und wartete auf ein Klingeln.
Aber es klingelte nicht, die ganze Nacht nicht.
Als ich am nächsten Morgen einen McDonald’s-Drive-In aufsuchte, fiel mir ein, dass ich Iona anrufen und ihr von dem Vorfall
berichten musste. Ansonsten würde sie es aus der Zeitung erfahren. Ich erwartete nichts von ihr, und es war ein komisches
Gefühl, überhaupt jemanden benachrichtigen zu müssen. Tolliver und ich sind es gewohnt, allein zurechtzukommen. Wären wir
nicht hier in der Gegend gewesen, wäre ich nie auf die Idee gekommen, Iona über Tollivers Verletzung zu informieren. Ich war
schon früh im Krankenhaus, fand Tolliver schlafend in seinem Zimmer vor. Dann kehrte ich in die Lobby zurück, um mein Handy
zu benutzen. Es war ein kalter, wolkenloser Tag mit einem knallblauen Himmel.
Ich sah auf die Uhr. Vielleicht war Iona noch nicht zur Arbeit aufgebrochen, also rief ich bei ihr zu Hause an. Iona war nicht
gerade begeistert, dass ich sie so früh störte, woraus sie auch keinen Hehl machte.
»Tolliver wurde gestern Abend angeschossen«, sagte ich. Daraufhin verstummte sie kurz.
»Geht es ihm gut?«, fragte sie dann, sogar jetzt noch vorwurfsvoll.
»Ja, er wird durchkommen«, sagte ich. »Er liegt im God’s Mercy Hospital. Er hatte eine Schulter-OP. Er wird ein paar Tage dortbleiben müssen, sagt der Arzt.«
»Ich glaube nicht, dass ich die Mädchen gleich informieren muss«, sagte Iona. »Mal ganz abgesehen davon, dass Hank sie gerade
zur Schule fährt. Wir werden das ansprechen, wenn sie heute Nachmittag nach Hause kommen.«
»Ganz wie du meinst«, sagte ich. »Ich muss Mark anrufen.« Ich legte auf und war wütend und enttäuscht. Ich wollte auch
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