Harper Connelly 04 - Grabeshauch
Nacht konnte ich mich an kaum ein Gesicht erinnern. »Jemand hat durch das
Fenster auf ihn geschossen«, sagte ich zu dem ersten Gesicht, das mir eine Frage stellte. »Ich stand hinter ihm, und jemand
hat durch das Fenster auf ihn geschossen.«
»In welcher Beziehung stehen Sie zu ihm?«, fragte das Gesicht.
»Ich bin seine Schwester«, sagte ich automatisch. »Und das ist sein Vater. Nicht mein Vater, aber seiner.« Keine Ahnung, warum
ich diese Unterscheidung traf. Vielleicht, weil ich den Leuten seit Jahren erklärte, dass ich nicht mit Matthew Lang verwandt
war.
»Sie müssen auch ins Krankenhaus«, sagte das Gesicht. »Man muss Ihnen die Splitter entfernen.«
»Was denn für Splitter?«, fragte ich. »Tolliver wurde angeschossen.«
»Sie haben Glassplitter im Gesicht«, sagte der Mann. Jetzt erkannte ich, dass es ein Mann war, ein älterer Mann von Mitte
fünfzig. Ich erkannte, dass er braune Augen, tiefe Krähenfüße, einen großen Mund und schiefe Zähne hatte. »Sie müssen sie
entfernen und die Wunden desinfizieren lassen.«
Ich sollte in Zukunft eine Schutzbrille tragen.
Das Nächste, woran ich mich erinnerte, war, dass ich im Krankenhaus in einer Kabine saß. Jemand hatte meine Geldbörse mitgenommen,
um an die Versicherungsinformationen zu kommen. Etwa hundert Leute stellten mir Fragen, aber ich konnte nicht sprechen. Ich
wartete darauf, dass jemand kam und mir sagte, wie es Tolliver ging. Es hatte keinen Sinn zu reden, bevor ich wusste, was
mit ihm los war. Die Ärztin, die mir die Glassplitter entfernte, schien sich ein bisschen vor mir zu fürchten. Sie bemühte
sich, auf mich einzureden, und dachte wohl, dass ich mich dabei entspanne.
»Sie müssen nach unten schauen, während ich dieses Stück hier entferne«, sagte sie schließlich. Und als ich nach unten sah,
spürte ich, wie alle Anspannung aus ihr wich. Ich musste sie angestarrt haben. Ich wünschte, ich könnte meinen Körper verlassen
und auf den Flur schweben, um nach meinem Liebsten zu sehen. Wenn ich schwor, ihn aufzugeben, für den Fall, dass er überlebte
– würde das etwas nutzen? Schwüre, die man macht, wenn man wirklich Angst hat, zeigen denwahren Charakter. Vielleicht auch nur die primitive Natur des Menschen. Jenes Menschen, der noch nie ein Einkaufszentrum gesehen,
noch nie ein Gehalt bekommen und die Nahrungsbeschaffung noch nicht an andere delegiert hat.
Eine Frau in einem knallrosa Kittel fragte, ob sie jemanden verständigen solle. Jemanden, der sich um mich kümmern könne.
Aber bei der Vorstellung, Iona oder Hank hier zu sehen, musste ich beinahe laut schreien, also sagte ich Nein.
Sie ließen seinen Dad zu ihm, aber nicht mich! Mir musste man die Glassplitter entfernen. Ich war so wütend, dass ich fürchtete,
mein Kopf könnte explodieren. Aber ich schrie nicht. Ich behielt alles für mich. Nachdem die Ärztin und die Krankenschwester
mit mir fertig waren und mir ein paar Tabletten gegeben hatten, weil sie glaubten, dass ich mich noch eine Weile unpässlich
fühlen würde, nickte ich ihnen zu und machte mich auf die Suche nach Tolliver. Ich entdeckte Matthew im Wartezimmer, er sprach
gerade mit einem Polizisten.
Er sah mich an, als ich hereinkam, und ich sah das Misstrauen in seinem Gesicht.
»Das ist Tollivers Stiefschwester. Sie war mit ihm im Raum und stand hinter ihm«, sagte Matthew wie ein Zeremonienmeister.
Der Polizist musste der Detective sein, da er eine Freizeithose, ein Hemd und eine Windjacke trug. Er war sehr groß und erinnerte
mich an einen ehemaligen Footballstar, was sich tatsächlich bewahrheitete. Parker Powers war ein berühmter Highschool-Footballer
aus Longview, Texas. Er hatte sich verletzt, als er gerade zwei Jahre bei den Dallas Cowboys unter Vertrag gewesen war. Das
machte ihn beinahe zu einem Star, zumindest war er prominent. Dank Matthew Lang erfuhr ich das alles in den ersten zehn Minuten
unserer Begegnung.
Detective Powers hatte einen mittelbraunen Teint und hellblaue Augen. Sein Haar war hellbraun, gelockt und kurz geschnitten.
Er trug einen Ehering.
»Wer, glauben Sie, hat auf Sie geschossen?«, fragte er mich direkter als erwartet.
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung«, sagte ich. »Ich hätte Matthew vermutet, wenn er nicht so schnell zurück ins Motelzimmer
gekommen wäre.«
»Warum sein Vater?«
»Wer sollte sonst ein Interesse daran haben?«, fragte ich, wobei mir auffiel, dass das nicht gerade schlüssig klang.
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