Harper Connelly 04 - Grabeshauch
in Erwägung. »Ja, natürlich, das könnte sein.« Dass ich nicht
längst selbst darauf gekommen war, musste daran liegen, dass ständig auf meine Begleiter geschossen wurde. »Es könnte also
etwas mit Cameron zu tun haben.«
»Oder mit dem Anrufer, der wusste, dass dieser Anruf die beste Methode ist, dich von Tolliver fortzulocken. Vielleicht dachte
er, du würdest abreisen und nach Texarkana zurückkehren. Er konnte ja nicht wissen, dass die Polizei anbot, dir das Band auf
dem hiesigen Revier zu zeigen.« Eine lange Pause entstand. »Äh, Harper«, sagte Manfred. »Bist du dir wirklich ganz sicher,
dass die Frau auf dem Band nicht deine Schwester war?«
»Ja, da bin ich mir sicher«, sagte ich. »Ihr Kinn war anders und ihr Gang auch. Klar, sie war blond und hatte die richtige
Größe. Ich wüsste auch nicht, warum jemand behaupten sollte, sie gesehen zu haben. Ausgerechnet jetzt, wo der Fall längst
zu den Akten gelegt wurde.«
»Du … du bist vermutlich fest davon überzeugt, dass Cameron tot ist?«
»Ja. Schon lange«, sagte ich nachdrücklich, so als bestünde daran nicht der geringste Zweifel. »Sie würde nie zulassen, dass
ich mir solche Sorgen mache, nicht über so viele Jahre hinweg.«
»Aber du sagtest, dass ihr es wirklich schwer zu Hause hattet.«
»Ja, das kann man wohl sagen.« Ich atmete tief durch. »Sie würde so etwas niemals tun«, sagte ich mit soviel Nachdruck wie
möglich. »Sie hat uns geliebt, und zwar alle ihre Geschwister.«
»Dein Stiefvater taucht also wieder auf, und plötzlich wird Cameron gesehen«, sagte er und war so taktvoll, nicht mehr anzudeuten,
dass meine Schwester freiwillig abgehauen sein könnte. »Ist das nicht auch ein ziemlich merkwürdiger Zufall?«
»Allerdings«, sagte ich. »Ich weiß auch nicht, was ich davon halten soll. Ich habe mir nie vorstellen können, dass er sie
umgebracht hat. Vielleicht hätte ich mal darüber nachdenken sollen. Aber er besuchte damals gerade einen Freund, den er aus
dem Knast kannte. Einen Typen, mit dem er Geschäfte machte, sodass Matthew rein zeitlich einfach nicht infrage kam.«
»Was für Geschäfte?«
»Drogen, alles, womit man Geld verdienen kann.« Ich verstummte einen Augenblick und musste nachdenken. Verrückt! Nie hätte
ich geglaubt, auch nur ein Detail von diesem Tag vergessen zu können. »An jenem Nachmittag wollten Renaldo und Matthew Alteisen
zum Schrottplatz bringen, um sich etwas Geld zu verdienen. Aber ich glaube nicht, dass sie jemals dort waren. Sie fingen an,
Billard zu spielen.«
»Wie hieß der Freund mit vollem Namen?«
»Renaldo Simpkins.« Ich war sehr traurig, weil es mir so schwerfiel, mich noch an alles zu erinnern. »Er war jünger als Matthew
und sah gut aus, das weiß ich noch.« Ich versuchte, sein Gesicht heraufzubeschwören. »Vielleicht kann sich Tolliver noch daran
erinnern«, sagte ich schließlich. Wenn ich auch nur das winzigste Detail von diesem Tag vergaß, fühlte ich mich, als würde
ich das Andenken meiner Schwester besudeln. Zum ersten Mal wusste ich es zu schätzen, dass diePolizei und Victoria Flores noch über die damaligen Ermittlungsakten verfügten.
Wir hielten auf dem Parkplatz eines weiteren Krankenhauses. Das Christian Memorial war vielleicht etwas neuer als das God’s
Mercy, obwohl in dieser Gegend nichts wirklich alt war. Wir betraten die Eingangshalle und fragten die Frau in dem knallrosa
Kittel an der Information nach dem Weg. Sie schenkte uns ein routiniertes Lächeln, das warm und herzlich sein sollte. »Detective
Powers liegt im vierten Stock, aber ich warne sie, dort ist jede Menge los. Kann sein, dass Sie gar nicht bis zu ihm vordringen.«
»Danke«, sagte ich und lächelte genauso routiniert zurück. Wir durchquerten die Lobby und betraten den Lift, wo Manfreds Gesichtsschmuck
ziemliches Aufsehen erregte. Er schien die ungläubigen, faszinierten Blicke gar nicht zu bemerken. Als sich die Türen im vierten
Stock öffneten, schauten wir in ein Meer von Gesichtern. Die dominierende Farbe war Blau. Polizisten in verschiedenen Uniformen
standen herum, und dann waren da noch Männer und Frauen in Zivil, die nur Detectives sein konnten. Es waren auch ein, zwei
Footballspieler da.
Obwohl ich gar nicht daran gedacht hatte, Manfred unten zu lassen, merkte ich sofort, dass es ein Riesenfehler gewesen war,
ihn mitzunehmen. Er fiel ziemlich auf, und zwar nicht unbedingt angenehm. Ich nahm Haltung an. Manfred war
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