Harper Connelly 04 - Grabeshauch
Ich fand es herrlich, in einem richtigen Haus zu wohnen und mir das Zimmer nur noch mit einem anderen Mädchen teilen zu müssen.
In einem Haushalt, in dem alles sauber war, ohne dass ich vorher saubermachen musste, und in dem es feste Hausaufgabenzeiten
gab. Ich schreibe den Clevelands immer noch zu Weihnachten. Sie erlaubten, dass mich Tolliver samstags besuchte, wenn er nicht
gerade arbeiten musste.
Als ich meinen Schulabschluss machte, planten wir bereits, uns mit meiner seltsamen Gabe den Lebensunterhalt zu verdienen.
Wir verbrachten Stunden auf dem Friedhof, wo wir übten und die Grenzen meiner Fähigkeiten ausloteten. Noch merkwürdiger als
unser Plan war die Tatsache, dass das eine sehr schöne Zeit in meinem Leben gewesen war, und ich glaube, auch in dem von Tolliver.
Das Traurigste daran war, dass ich alle meine Schwestern verloren hatte. Cameron war verschwunden, und Mariella und Gracie
lebten bei Iona und Hank.
Ich schlug Camerons Mathematikbuch auf. Sie hatte das Fach gehasst. Cameron war nicht besonders gut in Mathe. Dafür war sie
gut in Geschichte, das weiß ich noch. Geschichte hatte ihr gefallen. Es war leichter, sich mit dem Leben von Personen zu befassen,
die bereits tot waren und derenProbleme der Vergangenheit angehörten. Cameron war gut in Rechtschreibung und in Naturwissenschaften, vor allem aber in Biologie.
Die Zeitungen hatten seitenweise über die schlimmen Zustände im Wohnwagen berichtet. Über Laurels und Matthews Lasterleben,
über das Strafregister ihrer Besucher und über die Anstrengungen, die wir Kinder unternommen hatten, um zusammenbleiben zu
können. Doch ehrlich gesagt fand ich unser Zuhause so ungewöhnlich auch wieder nicht. In der stillschweigenden Art, wie Kinder
miteinander kommunizieren, wussten wir von einem Dutzend oder mehr Kindern, dass sie unter ähnlichen oder sogar noch schlimmeren
Umständen lebten.
Viele Leute können nichts dafür, dass sie arm sind. Aber sie können etwas dafür, dass sie schlecht sind. Wir hatten leider
Eltern, die beides waren.
Ich schlug eines der Hefte meiner Schwester auf. Ihre Schulhefte waren alle noch da. Die schmuddeligen linierten Seiten mit
ihrer Handschrift waren alles, was mir noch von ihr geblieben war. Cameron war außer mir die einzige gewesen, die sich noch
an die guten Zeiten erinnern konnte. An jene Zeiten, in denen unsere Eltern noch verheiratet und nicht drogensüchtig waren.
Wenn mein Vater noch lebte, würde er sich wahrscheinlich kaum noch daran erinnern können.
Ich schüttelte mich. Ich wollte nicht sentimental werden. Aber ich musste mich an den Tag zurückerinnern, an dem Cameron verschwand.
Wenn sie freiwillig in diesen Pick-up gestiegen war, sollte ich vielleicht aufhören, nach ihr zu suchen. Denn dann wäre sie
mir nicht nur fremd, sondern es gäbe auch keine Leiche aufzuspüren – außer ihr war in der Zwischenzeit etwas zugestoßen. Die
Ironie des Schicksals bestand darin, dass ich Cameron erst finden konnte, wenn sie tot war.
Ich fragte mich, ob Ida Beaumont noch lebte. Ich war damals so jung gewesen, dass sie für mich schon mit einem Bein im Grab
zu stehen schien. Jetzt wurde mir klar, dass sie höchstens fünfundsechzig gewesen war.
Aus einem unerklärlichen Impuls heraus rief ich die Auskunft von Texarkana an und erfuhr, dass sie noch immer im Telefonbuch
stand. Meine Finger wählten die Nummer, bevor ich überhaupt wusste, was ich mir davon versprach.
»Hallo?«, sagte eine Quietschstimme misstrauisch.
»Mrs Beaumont?«
»Ja, hier spricht Ida Beaumont.«
»Sie erinnern sich vielleicht nicht mehr an mich«, sagte ich. »Ich bin Harper Connelly.«
Schweigen.
»Was wollen Sie?«, sagte die Stimme.
Das war nicht unbedingt die Frage, die ich erwartet hatte.
»Wohnen Sie noch in demselben Haus, Mrs Beaumont? Ich würde Sie gern besuchen«, sagte ich spontan. »Ich würde gern einen meiner
Brüder mitbringen.«
»Nein«, sagte sie. »Bleiben Sie bloß weg! Als Sie das letzte Mal hier waren, haben die Leute noch wochenlang an meine Tür
geklopft. Die Polizei schaut immer noch manchmal vorbei. Bleiben Sie weg.«
»Wir müssen Ihnen ein paar Fragen stellen«, sagte ich ebenso wütend wie bestimmt.
»Die Polizei hat mir bereits jede Menge Fragen gestellt«, giftete sie zurück. In diesem Moment merkte ich, dass ich es völlig
falsch angestellt hatte. »Ich wünschte, ich wäre damals nie an die Tür gegangen.«
»Aber dann hätten Sie mir das
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