Harpyien-Träume
Gemeinschaft, um sich woanders eine Anstellung zu suchen. Einige von ihnen wanderten auf der Suche nach Arbeit einfach nur umher, wobei sie sorgfältig darauf achteten, wo sie ihre Füße hinsetzten, um niemandem Schaden zuzufügen. So kam es gelegentlich vor, daß einer von ihnen einen großen Baum erblickte, der vom Sturm entwurzelt und auf das Haus normaler Menschen gestürzt war; dann hob er in aller Stille den Baum vom Haus, um die darunter gefangenen Menschen zu befreien. Die wiederum pflegten zu glauben, daß dies ein Werk des Windes gewesen sei.
Griesbogens Vetter Riesenbogen fand eine Anstellung bei Com-Puter, wo er Leute in die Höhle der Maschine scheuchte. Doch achtete Riesenbogen dabei sorgfältig darauf, niemanden zu zertrampeln oder dem Wald irgendeinen Schaden zuzufügen.
Ein weiterer Vetter, Girard, hatte ein so weiches Herz, daß er versuchte, in einer Dürrezeit die Bäume zu bewässern und verletzten Tieren zu helfen. Er trieb sein gutes Werk so weit, daß es schon wieder zum Problem wurde. Als er eines Tages versuchte, einem kleinen Menschenjungen zu helfen, fing er sich einen Alptraum, der eigentlich dem Jungen zugedacht gewesen war. In diesem Traum erblickte er Gina Riesin, in die er sich sofort verliebte. Doch sie war nur eine Einbildung, die für diesen Traum erschaffen worden war, so daß ihm die Erfüllung seiner Liebe versagt blieb. Schließlich konnte Girard sie aber doch noch finden, nämlich im Traumreich des Hypnokürbis.
Griesbogen selbst war gar nicht erst dazu gekommen, nach seiner Liebe zu suchen. Seine Krankheit hatte ihn unverhofft überfallen und mit schleichendem Siechtum heimgesucht, wodurch sein Mundgeruch so schlimm geworden war, daß die anderen Riesen ihn nicht mehr ertrugen; er büßte seine Unsichtbarkeit ein und wurde immer schwächer. Und doch schien der Gute Magier zu glauben, daß es eine Lösung für ihn gab, und nach ebendieser Lösung hatte Griesbogen gesucht. Nun aber erkannte er, daß es keine Lösung oder Antwort gab, es sei denn, er hatte sie unterwegs verloren. Und so war er es zufrieden, wenigstens noch etwas Gutes zu tun, bevor er verschied.
»Ach, das ist aber traurig«, meinte Gloha und versuchte ihn zu trösten. »Du bist doch so ein nettes Wesen. Du hast es wirklich verdient, über deine Jugend hinaus zu leben. Wie alt bist du denn genau?«
Griesbogen zählte es an den Fingern ab. »Kurz vor meiner Volljährigkeit«, sagte er. »Man hat mich vor achtundvierzig Jahren auf einem Kohlfeld gefunden.«
»Aber das ist ja ganz furchtbar alt!« rief Gloha erstaunt.
»Für einen Riesen nicht. Wir werden für gewöhnlich etwa zweihundert Jahre alt. Also habe ich bisher noch nicht einmal ein Viertel meiner Lebensspanne erreicht. Nach euren Maßstäben wäre ich ungefähr…« Er konzentrierte sich und versuchte, mit den Fingern einen Dreisatz zu lösen, doch es funktionierte nicht besonders gut.
»Ungefähr neunzehn?« fragte sie.
»Ja, ich glaube, das kommt hin«, bestätigte er. »Würde ich bis ans Ende meiner Tage in diesem Körper verbleiben, würde ich schließlich auch nicht länger leben als du. Aber das ist natürlich eine rein theoretische Frage.«
»Es muß doch irgendeine Möglichkeit geben, dich zu retten«, meinte sie.
»Ich mache mir mehr Sorgen darüber, dich zu retten«, erwiderte er. »Es wäre mir ein unerträglicher Gedanke, wenn Veleno dich zur Braut bekäme.«
»Na, das wollen wir erst mal sehen!« sagte Gloha entschlossen. »Jetzt ruhe dich mal ein Weilchen aus, Griesbogen, während ich mir überlege, ob ich nicht irgendeine Möglichkeit finde, uns zu helfen.«
»Vielleicht holt Metria ja Hilfe.«
»Vielleicht.« Sie hielt und wiegte ihn, bis er einschlief. Ihre Umarmung war wunderbar tröstlich.
Griesbogen rechnete zwar damit, daß er sein Geheimnis mit ins Grab nehmen würde, doch vor sich selbst konnte er die törichte Wahrheit nicht länger verbergen: Er war von Natur aus ein Riese, Gloha dagegen ein Kobold-Harpyien-Mischlingswesen – dennoch liebte er sie. Ihm blieb nur noch, darauf zu hoffen, daß Gloha aus diesem Gefängnis entkam und daß ihr Herzenswunsch in Erfüllung ging. Er selbst aber konnte sich keine angenehmere Art und Weise des Dahinscheidens vorstellen, als von ihr in den Armen gewiegt zu werden.
11
Metria
Gloha hielt den schlafenden Griesbogen in den Armen. Sie hatte schreckliche Schuldgefühle, weil sie sich hier hatte erwischen lassen und ihre Freunde damit ebenfalls in die Gefangenschaft geführt
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