Harpyien-Träume
Ungewöhnliches an sich zu haben. Wahrscheinlich bildete sie es sich sowieso nur ein.
»Bin ich allein?« fragte sie.
»Ja und nein«, antwortete das kalte Flüstern. Die Steinwand bewegte sich nicht, das konnte es also nicht sein. Und überhaupt – sie wußte ja, daß Steine nicht sprechen konnten. Doch woher kam dann diese windige Stimme, da die Höhle doch leer zu sein schien?
Vielleicht befand sie sich ja auch im Schlaf und träumte nur einen Traum der Nachtmähre. Dann brauchte sie nur aufzuwachen. Sie zwickte sich fest in den Arm, doch obwohl es weh tat, veränderte sich ansonsten nichts. Nur daß sie jetzt ihrer Füße gewahr wurde. Irgend etwas nagte an ihren Zehen.
Sie bewegte den Kopf, sah sich um. Ihr Haupt ruhte in einem Nest eiförmiger Steine, und ihre Füße lagen in einem kreiselnden Teich aus eisigem Wasser. Darin befanden sich tatsächlich hübsche kleine Fische, die an ihren Zehen nibbelten, obwohl sie nicht richtig zubissen. Vielleicht versuchten sie auch nur, Gloha in die Wachheit zurückzurufen.
Sie setzte sich auf, schlang sich den Umhang um die Schultern und erhob sich. Das hätte sie lieber nicht getan – sie mußte aufschreien vor Schmerz. Ihr rechtes Knie war so dick angeschwollen wie ein kugeliger kleiner Kürbis und tat mindestens doppelt so weh. Hastig nahm sie wieder Platz. Sie hatte Hunger, sie hatte Durst, und sie vermißte ihre Mutter Gloria Kobold und ihren Vater Hardy Harpyie, ebenso ihre Lehrerin Elster.
Warum hatte sie sich nur an einen solchen Ort begeben? Nüchtern zog sie Bilanz. Na ja, wenigstens gegen den Durst würde sie etwas tun können. Vorsichtig hielt sie das Gesicht an das kalte, kristallklare Wasser des Teichs und benetzte die Lippen. Gierig nahm sie ein paar kleine Schlucke, was den schlimmsten Durst stillte.
Und jetzt, da sie das Gesicht dicht an den Teich hielt, achtete sie ein wenig aufmerksamer auf die rotgoldenen Gestalten darin. Es waren drei zahme Sprödfische, die sie von ihren gelegentlichen Schwimmausflügen an der Oberfläche her kannte. Gloha sah ihr unverwechselbares Muster. Sie versuchten nicht etwa, sie zu fressen, sie wollten nur Gesellschaft haben.
Gloha griff mit einer Hand nach ihnen. »Ich werde euch nichts tun«, sagte sie. »Ich bin in derselben Lage wie ihr. Kommt, laßt mich euch kitzeln, dann will ich euch von meinem Kampf um Leben und Tod erzählen.« Die Fische zappelten zustimmend und spielten eine leise Musik.
Plötzlich beunruhigte sie die Gegenwart der Fische. Sie machten ihr Hoffnung, und genau das ängstigte sie. Vielleicht könnte sie ihnen eine Nachricht mitgeben, die sie den Harpyien bringen würden, damit diese kamen, um sie zu retten. Damit sie nicht einfach aufgab und in Frieden verschied.
»Geht, Freunde, und sagt meinen Leuten, wo ich bin«, rief Gloha. »Vor allem Elster, falls ihr sie findet.« Denn Elster – eine der wenigen fürsorglichen Dämoninnen – verfügte gewiß über den Willen und die Fähigkeit, ihr zu helfen.
Die Fische spielten eine weitere kleine Melodie und huschten davon.
Gloha streckte sich wieder aus, wollte noch einmal einschlafen, da ihr ohnehin nicht viel anderes übrig blieb, als zu leiden. Sie brauchte nur acht lange Minuten sowie zwei bis drei kurze, um zu begreifen, daß sie wohl kaum Schlaf finden würde. So blieb sie liegen, durchgefroren, hungrig, niedergeschlagen und steif auf dem Bett aus steinernen Eiern. Sie wünschte sich, daß ihr Bett aus aufgeschüttelten Federn bestünde. Die Steine leuchteten zwar in hübschen Farben, blieben aber weiterhin unbequem.
Gloha erhob sich, wobei sie ihr geschwollenes Knie sorgfältig schonte, so daß der Schmerz fast erträglich war. Sie kehrte zu der dunkelsten Ritze in der Höhlenwand zurück. Mit einigermaßen klarem und offenem kleinen Auge nahm sie jede steinerne Einzelheit auf. Sollte ihre Harpyienzeit gekommen sein? Dann würde sie versuchen, es sich so nachdenklich-angenehm zu machen, wie sie nur konnte.
Sie bahnte sich ihren Weg in die Mitte der Ruinen in der Höhle, vor sich hin summend und an Elster denkend. Falls die Fische sie fanden, würde Elster kommen. Falls nicht…
Gloha klopfte an eine Säule. Die hallte düster wider. Sie klopfte an eine zweite. Die hatte einen anderen Klang. So entdeckte sie verschiedene weitere Noten, bildete eine Melodie und sang dazu, ließ die goldenen Töne in den Scherben aus Sonnenlicht tanzen, die nun durch die zerklüfteten Höhlenritzen fielen. Die Lichtstrahlen vibrierten wie die Saiten
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