Harpyien-Träume
Gloha errötete, was natürlich alles nur noch schlimmer machte, weil sie nun noch schuldiger aussah, als sie wahrscheinlich ohnehin schon war. »Wie meinst du, Tante?«
»Du hast ganz höflich um dieses Morgengespräch ersucht, was einmal mehr zeigt, wie wenig von einer Harpyie du an dir hast«, erklärte die Harpyie. »Du hättest es vielmehr mit den übelsten Schimpfwörtern fordern müssen. Also, was im Namen der Idiotie willst du?«
Irgendwie gelang es Gloha, genug Mut zusammenzukratzen, um auszusprechen, was ihr auf dem gedämpften kleinen Herzen lag. »Tante Haarbutt, ich bin es leid und müde, ein langweiliges und mittelmäßiges Leben unter Kreaturen führen zu müssen, die ganz anders sind als ich. Wir wissen doch alle, was passiert, wenn man sich irgendwo in der Mitte aufhält – dann wird man totgetrampelt. Ich möchte Alchemistin werden, Geoalchemistin in einer Zauberermannschaft. Ich finde, wenn man keinen Traum hat, den man verfolgt, sitzt man fest in unserer st… st…« Sie stockte, konnte das häßliche Wort einfach nicht über die Lippen bringen.
»Stinkenden!« kreischte Haarbutt. »S T I N K E N D E N! Wo bleibt denn nur dein Harpyienwortschatz? Mädchen, du mußt lernen zu fluchen, wenn du im Leben weiterkommen willst. Los, versuch es noch einmal.«
Schüchtern unternahm Gloha eine kleine Anstrengung. »Fest in unserer stinkenden Schweinegrube«, preßte sie hervor. »Ich habe immer wieder denselben Alptraum, der mir von einer Nachtmähre gebracht wird, daß ich nämlich nicht mehr fliegen kann – daß ich ein verkrüppelter Vogel mit gebrochenen Flügeln bin. Laß mich das Nest verlassen…«
»Was für ein Nest?« kreischte Haarbutt.
»Das st… stinkende Nest, um mich auf die Suche nach…«
»Wozu, um alles in der Hölle, diese Eile?« wollte Haarbutt wissen. »Die Sicherheit des Schwarms verlassen, obwohl du noch nicht einmal richtig fluchen kannst? Da würdest du dir aber schnell die Flügel brechen! Das Nest ist nun einmal das Beste für Küken.«
»Aber ich bin doch schon achtzehn, Tantchen«, erinnerte Gloha sie.
»Ja, und hast den Wortschatz eines schmutzigen Vogels, der kaum halb so alt ist wie du«, versetzte Haarbutt, während sie sich mit einer dolchähnlichen Klaue Aas aus den Zähnen pickte. »Wenn ein Ungeheuer käme, um dich aufzufressen, würdest du dem nicht mal Zahnschmerz bereiten können, weder mit deiner Stimme noch mit deiner Körperhygiene. Du wärst nur ein leckeres kleines Häppchen, bei dem einem das Wasser im Mund zusammenläuft.«
Nur zu wahr. Doch Gloha wußte, daß sie nie wieder den Mut aufbringen würde, dieses Thema noch einmal anzuschneiden, und so bemühte sie sich, die Sache zu Ende zu führen.
»Könntest du mich nicht in entsprechender Begleitung zum Schloß des Guten Magiers Humfrey fliegen lassen, auf Dienstreise, damit ich dort meine Frage stellen und ihm für die Antwort den Jahresdienst ableisten kann? Oh, bitte, Tante Haarbutt! Ich würde alles tun, wenn ich nur…«
»Harpyien flehen nicht!« fauchte Haarbutt, von diesem Beweis der Schwäche angewidert. »Zeig mir, daß du wenigstens einen flammenden Fluch zustande bringst, und ich lasse dich ziehen.«
Gloha versuchte es. »Mist!« rief sie. »Blöd! Dumm!«
Haarbutt seufzte. »Du machst Fortschritte. Wenigstens zielst du schon auf die Schimpfwörter. Aber das ist alles viel zu schwach und gilt nicht. Es ist ja nicht einmal eine Ahnung von einer Flamme in der Luft. Hör mir mal zu: So drückt sich eine richtige Harpyie aus.« Sie atmete tief ein.
»*%#&@+$!«
Gloha schaffte es gerade noch rechtzeitig, sich die Ohren zuzuhalten. Trotzdem spürte sie die Hitze des schrecklichen Stoßes. Die Luft schimmerte und brannte, auf dem Tisch erschienen Brandspuren. Es roch versengt.
Als wieder frische Luft hereinwehte, die das Atmen möglich machte, fuhr Haarbutt mit ihrem gewöhnlichen Gekreische fort. »Na, kannst du das, Küken?«
»M-m-mit der Zeit, vielleicht«, sagte Gloha, obwohl sie wußte, daß es unmöglich war.
»Mit der Harpyienzeit, vielleicht«, berichtigte Haarbutt sie enttäuscht. »Gloha, du bist immer noch feucht hinter dem Ohrgefieder. Es wäre der blanke Wahnsinn, dich allein oder in inkompetenter Begleitung ziehen zu lassen. Weißt du denn überhaupt, wo die Saat der Vernichtung aufbewahrt wird? Kannst du Luftaufklärung betreiben und Dinge kartographieren oder organisieren, wie es dem Harpyienzeitplan entspricht? Wir, die gräßlichen Harpyien, die stinkenden
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