Harry Bosch 02 - Schwarzes Eis
jedoch einen l ä ngeren Zeitraum dokumentierten. Der Junge wuchs sprunghaft und der Hintergrund sah nach dritter Welt aus. Sie waren in einem Barrio aufgenommen worden. Meistens standen Menschengruppen im Hintergrund. Mexikaner mit dem leichten Ausdruck von Verzweiflung und Hoffnung, wie ihn Bosch von den Ghettos in L. A. kannte.
Und jetzt tauchte noch ein anderer Junge auf den Fotos auf. Er war gleich alt oder etwas ä lter. Er wirkte st ä rker und h ä rter. Oft war er zusammen mit Cal auf einem Bild. M ö glicherweise ein Bruder, dachte Bosch.
In dieser Gruppe Fotos begann die Mutter deutlich zu altern. Das M ä dchen, das das Serviertablett gehalten hatte, war verschwunden. Eine Mutter, die ein hartes Leben durchgemacht hatte, war an ihre Stelle getreten. Die Bilder lie ß en einen nicht los. Es bedr ü ckte Bosch, sie zu betrachten, weil er begriff, welche Macht sie auf Moore ausge ü bt hatten.
Die letzte Schwarzwei ß aufnahme zeigte zwei Jungen mit freiem Oberk ö rper, die an einem Picknicktisch sa ß en und ü ber irgend etwas lachten – und so f ü r immer festgehalten wurden. Calexico war ein junger Teenager mit einem offenen Gesicht. Der andere Junge, der vielleicht ein, zwei Jahre ä lter war, machte einen gef ä hrlichen Eindruck. Seine Augen wirkten hart und finster. Auf dem Bild beugt Cal seinen rechten Arm und zeigten dem Fotografen seine Muskeln. Er hatte schon die T ä towierung, den Teufel mit dem Heiligenschein. Heilige und S ü nder.
Danach erschien der andere Junge nicht mehr auf den Bildern. Jetzt kamen Farbfotos, die in Los Angeles aufgenommen waren. Bosch erkannte das Rathaus, das im Hintergrund eines Bildes in die H ö he ragte, und den Brunnen in Echo Park auf einem anderen. Moore und seine Mutter waren in die USA ü bergesiedelt. Wer auch immer der andere Junge war, er war zur ü ckgeblieben.
Gegen Ende des Stapels erschien die Mutter nicht mehr auf den Fotos. Harry fragte sich, ob sie gestorben war. Die beiden letzten Bilder zeigten Moore als Erwachsenen. Das erste war bei der Abschlu ß feier der Polizeischule gemacht worden. Eine Gruppe soeben vereidigter Polizisten stand auf dem Rasen vor dem Daryl F. Gates Auditorium. Sie warfen ihr H ü te in die Luft. Bosch erkannte Moore. Er hatte seinen Arm um die Schulter eines anderen Polizeianw ä rters gelegt, und sein Gesicht zeigte ehrliche Freude.
Auf dem letzten Foto l ä chelten Moore in Paradeuniform und eine junge Sylvia Wange an Wange. Ihre Haut war glatter, ihre Augen leuchteten st ä rker, und ihr Haar war l ä nger und voller. Aber allzusehr hatte sie sich seitdem nicht ver ä ndert; sie war immer noch eine sch ö ne Frau.
Er schob die Fotos wieder in die T ü te und legte sie neben sich auf die Couch. Es h ä tte ihn interessiert, warum sie nie in ein Album gesteckt oder gerahmt worden waren. Es waren Puzzlest ü cke eines Lebens, verpackt und jederzeit bereitliegend, an einen anderen Ort mitgenommen zu werden.
Eigentlich wu ß te er den Grund. Zu Hause hatte er selbst Stapel von Fotos, die er nie einkleben w ü rde, die er in der Hand halten mu ß te, wenn er sie ansah. Sie waren nicht nur Bilder einer anderen Zeit. Sie waren Teil seines Lebens, eines Lebens, das nicht vorangehen konnte, wenn er nicht wu ß te und verstand, was hinter ihm lag.
Bosch griff zur Lampe und schaltete sie aus. Er rauchte noch eine Zigarette, an deren Ende die Glut in der Dunkelheit schwebte. Er dachte ü ber Mexiko und Calexico Moore nach.
» Mann, hast du Schei ß e gebaut «, fl ü sterte er noch einmal. Er hatte sich eingeredet, da ß er hergekommen war, um Moore besser kennenzulernen. Mit diesem Argument hatte er sich ü berwunden. Jetzt, wo er hier im Dunklen sa ß , wu ß te er, da ß das nicht die ganze Wahrheit war. Er war gekommen, um einen Lebenslauf zu verstehen, der nicht zu erkl ä ren war. Der einzige, der die Antworten zu allen Fragen hatte, war Cal Moore. Und der war davongegangen.
Das wei ß e Neonlicht schien auf die Fenstervorh ä nge und verwandelte sie in Gespenster. Sie erinnerten ihn an das Foto von Vater und Sohn, die allm ä hlich verblichen. Er dachte an seinen eigenen Vater, den er erst kennengelernt hatte, als dieser auf dem Sterbebett lag und es f ü r ihn selbst schon zu sp ä t war, sein Leben zu ä ndern.
Er h ö rte, wie ein Schl ü ssel von der anderen Seite in das Schlo ß gesteckt wurde, und sprang mit gezogener Pistole auf. Mit schnellen Schritten bewegte er sich zum Flur und zuerst ins
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