Harry Bosch 03 - Die Frau im Beton
umbrachte. Ich könnte noch viele Namen nennen. Verstehen Sie, das ist genau der Grund, warum sie so viele Opfer töten können, bevor sie gefaßt werden. Und das geschieht meistens nur wegen eines kleinen Fehlers.«
»Wie bei Norman Church.«
»Ja.«
»Wie Sie vorhin aussagten, konnten Sie nicht genug Informationen über Norman Churchs frühe Entwicklung und sein Verhalten sammeln, um ihn in Ihr Buch aufzunehmen. Bezweifeln Sie aus diesem Grunde, daß er – wie die Polizei sagt – der Mörder war?«
»Nicht im geringsten. Wie ich ausführte, können diese Begierden leicht durch normales Verhalten überdeckt werden. Diese Menschen wissen, daß ihre Triebe nicht von der Gesellschaft akzeptiert werden. Sie können mir glauben, diese Leute tun alles, um ihr ›schwarzes Herz‹ zu verbergen. Mr. Church war nicht der einzige Kandidat für mein Buch, den ich dann wegen fehlender Informationen fallenlassen mußte. Ich habe über mindestens drei andere Serienmörder, die entweder tot oder unkooperativ waren, vorläufige Studien angestellt, die ich dann abbrach, weil kein öffentlich zugängliches Material über sie vorhanden war.«
»Sie erwähnten zuvor, daß diese Probleme in der Kindheit entstehen. Wie?«
»Ich hätte ›eventuell‹ sagen sollen. Die Wurzeln könnten in der Kindheit liegen. Wir bewegen uns auf einem schwierigen Gebiet, über das wir nichts Sicheres wissen. Um auf Ihre Frage zu kommen, wenn ich eine endgültige Antwort hätte, gäbe es wohl keine Arbeit mehr für mich. Aber Psychoanalytiker wie ich nehmen an, daß Paraphilie aus emotionalen oder körperlichen Traumata entspringt – oder aus einer Kombination von ihnen. Sie entsteht als Synthese traumatischer Erfahrungen, beteiligt daran sind eventuell biologische Faktoren und angelerntes Sozialverhalten. Es ist schwierig, den Zeitpunkt genau zu bestimmen, an dem es stattfindet. Wir glauben jedoch, daß es früh passiert. Im allgemeinen zwischen dem fünften und achten Lebensjahr. Einer der Männer in meinem Buch wurde im Alter von drei Jahren von seinem Onkel sexuell mißbraucht. Ich vertrete die These – oder meinetwegen glaube –, daß dieses Trauma seine Entwicklung zum Mörder von Homosexuellen einleitete. Bei den meisten Morden entmannte er seine Opfer.«
Während Lockes Aussage war es im Gerichtssaal so leise geworden, daß Bosch hörte, wie hinten eine der Türen aufgestoßen wurde. Er schaute sich um und sah Jerry Edgar in der letzten Reihe Platz nehmen. Edgar nickte ihm zu, und Harry schaute auf die Wanduhr. Es war Viertel nach vier; die Verhandlung würde in fünfzehn Minuten für den Tag beendet werden. Edgar kam wahrscheinlich gerade von der Autopsie, schätzte Bosch.
»Muß das Kindheitstrauma, das dem kriminellen Verhalten einer Person zugrundeliegt, so offensichtlich sein? So offensichtlich sein wie sexueller Mißbrauch?«
»Nicht unbedingt. Es könnte auch auf konventionellerem emotionalem Stress beruhen, dem das Kind ausgesetzt wurde. Zum Beispiel der Druck, in den Augen der Eltern erfolgreich zu sein, verbunden mit anderen Faktoren. Es ist sehr schwierig, dies hypothetisch zu diskutieren, da es so viele Dimensionen der menschlichen Sexualität gibt.«
Bevor er abschloß, hängte Belk noch ein paar allgemeine Fragen über Lockes Untersuchungen an, und dann hakte Chandler noch einmal in einigen Punkten nach, aber Bosch hatte das Interesse verloren. Edgar mußte interessante Neuigkeiten haben, sonst wäre er nicht in den Gerichtssaal gekommen. Zweimal schielte er zur Wanduhr und zweimal schaute er auf seine Armbanduhr. Schließlich erklärte Belk, daß er keine weiteren Fragen fürs Kreuzverhör habe, und Richter Keyes schloß die Sitzung.
Locke verließ den Zeugenstand, und Bosch beobachtete, wie er durch die Schranke zur Ausgangstür schritt. Einige der Reporter folgten ihm. Dann erhob sich die Jury und ging im Gänsemarsch aus dem Saal.
Belk drehte sich zu Bosch um und sagte: »Bereiten Sie sich gut für morgen vor. Ich schätze, Sie kommen morgen dran.«
»Was gibt’s Neues, Jerry?« fragte Bosch, als er ihn auf dem Flur eingeholt hatte.
»Steht dein Auto am Parker Center?«
»Ja?«
»Ich habe auch da geparkt. Gehen wir zusammen rüber.«
Sie stiegen auf die Rolltreppe, sprachen jedoch nicht miteinander, da viele Zuschauer aus dem Gerichtssaal mit ihnen hinunterfuhren. Als sie draußen auf dem Bürgersteig allein waren, zog Edgar ein weißes Schriftstück aus der Tasche und reichte es Bosch.
»Also, wir
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