Harry Bosch 07 - Dunkler als die Nacht
hatte und von der er Graciela erzählt hatte.
»Und, hast du Jaye schon angerufen und ihr gesagt, dass er es war?«
»Nein. Das spielt auch keine Rolle mehr. Letztlich ist es meine Schuld. Ich war so blöd, ihn aufs Boot zu lassen. Könnten wir vielleicht über was anderes sprechen? Ich habe es satt, darüber nachzudenken und zu reden.«
»Wenn du meinst, Terry. Worüber möchtest du denn gern reden?«
Er blieb still. Sie blieb still. Nach einer Weile begann er zu lachen.
»Mir fällt im Moment nichts ein.«
Graciela aß einen Bissen ihres Sandwich zu Ende. McCaleb blickte zu Cielo hinüber, die zu einem blau-weißen Ball hochsah, der an einem seitlich an ihrer Wippe befestigten Stück Draht hing. Sie versuchte, mit ihren winzigen Händen danach zu greifen, bekam ihn aber nicht zu fassen. McCaleb merkte, wie sie das frustrierte, und konnte das gut nachempfinden.
»Erzähl deinem Vater, was du heute im botanischen Garten gesehen hast«, sagte Graciela zu Raymond.
Vor kurzem hatte sie begonnen, McCaleb als Raymonds Vater zu bezeichnen. Sie hatten den Jungen zwar adoptiert, aber McCaleb wollte keinerlei Druck auf ihn ausüben, dass er ihn als seinen Vater betrachtete oder bezeichnete. Normalerweise nannte Raymond ihn Terry.
»Wir haben einen Channel-Islands-Fuchs gesehen«, sagte der Junge. »Er hat im Canyon gejagt.«
»Ich dachte, Füchse jagen nachts und schlafen tagsüber.«
»Dann muss ihn wohl jemand geweckt haben, weil wir ihn nämlich gesehen haben. Er war ganz schön groß.«
Graciela nickte zur Bestätigung.
»Ist ja toll«, sagte McCaleb. »Nur schade, dass du kein Foto gemacht hast.«
Darauf aßen sie ein paar Minuten schweigend weiter. Graciela wischte dem Baby mit ihrer Serviette Sabber vom Kinn.
»Wie dem auch sei«, sagte McCaleb schließlich. »Du bist sicher froh, dass nun Schluss ist und hier wieder alles seinen gewohnten Gang nimmt.«
Graciela sah ihn an.
»Ich möchte nur, dass dir nichts zustößt. Ich möchte, dass die ganze Familie zusammen ist und ihr nichts zustößt. Das ist, worüber ich froh bin, Terry.«
Er nickte und aß sein Sandwich zu Ende.
Sie fuhr fort: »Ich möchte, dass du glücklich bist, aber wenn das bedeutet, dass du solche Fälle übernehmen musst, dann ist das eindeutig ein Konflikt mit deinem persönlichen gesundheitlichen Wohlergehen und dem Wohlergehen dieser Familie.«
»Also, deswegen brauchst du dir jedenfalls keine Sorgen mehr zu machen. Ich glaube nicht, dass mich nach allem, was passiert ist, noch mal jemand um Hilfe bittet.«
Er stand auf, um den Tisch abzuräumen. Doch bevor er die Teller zusammenstellte, beugte er sich über die Wippe seiner Tochter und verbog den Draht so, dass sich der blauweiße Ball in ihrer Reichweite befand.
»So sollte es eigentlich nicht sein«, sagte Graciela.
McCaleb sah sie an.
»Doch, sollte es schon.«
29
M cCaleb blieb bis in die frühen Morgenstunden mit dem Baby auf. Er und Graciela wechselten sich in den Nächten immer ab, damit wenigstens einer von ihnen richtig schlafen konnte. Cielo schien fast stündlich Hunger zu bekommen. Jedes Mal, wenn sie aufwachte, gab er ihr die Flasche und wanderte mit ihr durch das dunkle Haus. Er klopfte ihr sanft auf den Rücken, bis sie ihr Bäuerchen machte, und legte sie danach wieder hin. Eine Stunde später ging das Ganze wieder von vorn los.
Nach jedem Zyklus ging McCaleb durchs ganze Haus und sah nach, ob die Türen geschlossen waren. Es war eine nervöse Angewohnheit, eine Art Ritual. Da das Haus hoch oben auf dem Hügel lag, war es in dichten Nebel gehüllt. Wenn er aus einem der Fenster nach hinten raus blickte, konnte er nicht einmal die Lichter des Hafens sehen. Er fragte sich, ob der Nebel über die ganze Bucht bis zum Festland reichte. Harry Boschs Haus lag weit oben in den Hügeln. Er fragte sich, ob er ebenfalls am Fenster stand und in das neblige Nichts starrte.
Am Morgen übernahm Graciela das Baby und McCaleb, der von der Nacht und allem anderen erschöpft war, schlief bis elf. Als er wach wurde, war es vollkommen still im Haus. Er tappte in T-Shirt und Boxershorts auf den Flur hinaus und stellte fest, dass das Haus leer war. Auf dem Küchentisch lag ein Zettel von Graciela, sie sei mit den Kindern zur Zehn-Uhr-Messe in St. Catherine’s gegangen und wolle anschließend auf den Markt. Sie wären bis Mittag wieder zurück.
McCaleb ging zum Kühlschrank und nahm den großen Krug mit Orangensaft heraus. Er schenkte sich ein Glas daraus ein, nahm seine
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