Harry Bosch 07 - Dunkler als die Nacht
habe mal eine Menge Bücher über Geschichte gelesen. Als Jugendlicher. Praktisch alles, was sie in der Bibliothek hatten. Vor allem über die Geschichte der Region. Hauptsächlich L. A. und Kalifornien. Irgendwie hat mich das interessiert. Einmal haben wir vom Jugendheim einen Ausflug nach Catalina gemacht. Deshalb habe ich alles über die Insel gelesen.«
McCaleb nickte.
»Die Indianer, die hier lebten – die Gabrielinos –, haben die Sonne angebetet«, fuhr Bosch fort. »Aber als die Missionare kamen, wurde das alles anders – sie waren es übrigens auch, die sie Gabrielinos nannten. Selbst nannten sie sich anders, aber diesen Namen weiß ich nicht mehr. Jedenfalls, bevor die Missionare auf der Insel auftauchten, beteten sie die Sonne an. Wahrscheinlich war sie so wichtig für das Leben auf der Insel, dass sie dachten, sie muss ein Gott sein.«
McCaleb beobachtete, wie Boschs Blick über den Hafen glitt.
»Und die Indianer auf dem Festland hielten den Stamm hier auf der Insel für große Zauberer, die durch die Opfer an ihren Gott das Wetter und die Wellen beeinflussen konnten. Ich meine, es gehörte ja auch wirklich einiges dazu, über die Bay zu kommen, um auf dem Festland ihre Keramik und ihre Seehundfelle tauschen zu können.«
Um herauszubekommen, was Bosch ihm damit zu verstehen geben wollte, sah McCaleb ihn aufmerksam an.
»Was wollen Sie damit sagen, Harry?«
Bosch hob die Schultern.
»Keine Ahnung. Wahrscheinlich nur, dass die Menschen Gott immer da finden, wo sie ihn haben wollen. In der Sonne, in den Augen eines Neugeborenen … in einem neuen Herzen.«
Als er McCaleb ansah, waren seine Augen so dunkel und unergründlich wie die der bemalten Eule.
»Und manche Leute«, begann McCaleb, »finden ihre Erlösung in der Wahrheit, in der Gerechtigkeit, in dem was richtig ist.«
Jetzt nickte Bosch und setzte wieder dieses schiefe Grinsen auf.
»Klingt nicht schlecht.«
Er drehte sich zur Seite und zog einmal kräftig am Seil, um den Motor anzulassen. Dann legte er in einem spöttischen Salut die Finger an die Schläfe und fuhr los. Er wendete das Leihboot und fuhr damit direkt auf den Anleger zu. In Unkenntnis der Hafenetikette fuhr er quer über das Fahrwasser und zwischen unbenutzten Muringbojen hindurch. Er blickte sich nicht um. McCaleb sah ihm die ganze Zeit nach. Ein Mann in einem alten Holzboot, ganz allein auf dem Wasser. Und mit diesem Gedanken kam eine Frage. Meinte er damit Bosch oder sich selbst?
30
A uf der Rückfahrt kaufte sich Bosch am Kiosk der Fähre eine Cola. Er hoffte, sie würde seinen Magen so weit beruhigen, dass er nicht seekrank würde. Als er einen der Stewards fragte, wo das Schiff am wenigsten schaukelte, verwies ihn der Mann nach drinnen zu den mittleren Sitzreihen. Er setzte sich und nahm ein paar Schlucke von seiner Cola, dann zog er die zusammengefalteten Seiten, die er in McCalebs Büro ausgedruckt hatte, aus seiner Jackentasche.
Er hatte zwei Dateien ausgedruckt, bevor er McCaleb im Zodiac zu seinem Boot hatte herüberkommen sehen. Eine hieß TATORT-PROFIL, die andere TÄTER-PROFIL. Er hatte die Ausdru cke in seine Jacke gesteckt und den tragbaren Drucker vom Laptop abgehängt, bevor McCaleb an Bord gekommen war. Da die Zeit nur gereicht hatte, um sie sich auf dem Bildschirm kurz anzusehen, kam er erst jetzt dazu, sie in aller Ruhe zu studieren.
Zuerst nahm er sich das Tatortprofil vor. Es war nur eine Seite lang und enthielt lediglich McCalebs flüchtige Notizen zum Tatortvideo.
Dennoch verschaffte es ihm Einblick in McCalebs Arbeitsweise. Es zeigte, wie aus seinen Eindrücken von einem Tatort Eindrücke von einem Verdächtigen wurden.
TATORT
Schlinge
Nackt
Kopfwunde
Klebeband/Knebel – »Cave?«
Eimer?
Eule – die zusieht?
sehr gut organisiert
detailfixiert
Statement – der Tatort ist sein Statement
er war da – er sah zu (die Eule)?
Entblößung = Erniedrigung des Opfers = Hass auf das Opfer, Verachtung
Eimer – Reue?
Mörder – frühere Bekanntschaft mit dem Opfer
persönliche Bekanntschaft – vorherige Interaktion
persönlicher Hass
Mörder innerhalb des Zauns
was ist das Statement?
Bosch las die Seite noch einmal und dachte dann darüber nach. Obwohl er den Tatort, anhand dessen sich McCaleb die Notizen gemacht hatte, nicht näher kannte, war er beeindruckt von den logischen Schlüssen, die McCaleb gezogen hatte. Vorsichtig war er so weit die Leiter hinabgestiegen, bis er zu dem Schluss gelangt war, dass der Täter jemand
Weitere Kostenlose Bücher